Veranstaltungsankündigung: Akademie-Tagung zum Thema „Identität“ in Berlin

Am 10. November 2018 wird die Akademie forum masonicum e.V. ihre diesjährige Tagung zum Thema „Identität – eine Frage, ein Versprechen der Sicherheit, eine Verheißung?“ in Berlin durchführen.

Identität – das, was in der Logik geradezu als die schlichteste Bestimmung gilt, nämlich die Übereinstimmung, das erweist sich in menschlichen Angelegenheiten als alles andere als einfach.

Geht es in der Frage nach der Identität um das Individuum, das sich bei seiner Bestimmung der „ureigenen“ Identität über die Abgrenzung von anderen und unter Verwendung allgemeiner Begriffe verstehen kann? Oder ist unsere Identität bestimmt gerade durch das von uns Ungewählte, das uns Vorangehende einer Kultur, einer Tradition, einer Nation? Ist gar unsere Identität ein Zukunftsprojekt, eine Art potenziell unendlicher Selbstfindungprozess, dessen Resultat wir noch gar nicht absehen können?

Und jenseits dieser Fragen hat der Begriff der Identität im politischen Diskurs eine besondere Aktualität bekommen. Im Kontext von political correctness fordern unterschiedliche Gruppen unter Berufung auf ihre besondere Identität eine sprachliche Sichtbarkeit, die ihr nach eigener Auffassung und mit sozial diskriminierenden Konsequenzen bisher verweigert wurde. Andere politische Gruppen fordern die Verteidigung und gar Bevorzugung der heimischen kulturellen, nationalen und ethnischen Identität, deren Erhalt sie durch Einwanderung gefährdet sehen.

Die Akademie forum masonicum möchte sich auf ihrer diesjährigen Tagung diesen Fragen stellen und hat dazu mit Stefan Weidner, Professor Dr. Wolfgang Welsch und Professor Dr. Jörg Zirfas namhafte Experten aus den Bereichen Kulturwissenschaften, Philosophie und Kulturanthropologie eingeladen.

Weitere Informationen finden Sie auf der Tagungsseite hier und im Flyer zur Veranstaltung mit Anmeldeforumlar.

Identität – eine Frage, ein Versprechen der Sicherheit, eine Verheißung?

Akademietagung in Berlin, Samstag, den 10. November 2018

Flyer zur Veranstaltung mit Anmeldeformular

Zum Thema

Identität – das, was in der Logik geradezu als die schlichteste Bestimmung gilt, nämlich die Übereinstimmung, das erweist sich in menschlichen Angelegenheiten als alles andere als einfach.

Geht es in der Frage nach der Identität um das Individuum, das sich bei seiner Bestimmung der „ureigenen“ Identität über die Abgrenzung von anderen und unter Verwendung allgemeiner Begriffe verstehen kann? Oder ist unsere Identität bestimmt gerade durch das von uns Ungewählte, das uns Vorangehende einer Kultur, einer Tradition, einer Nation? Ist gar unsere Identität ein Zukunftsprojekt, eine Art potenziell unendlicher Selbstfindungprozess, dessen Resultat wir noch gar nicht absehen können?

Und jenseits dieser Fragen hat der Begriff der Identität im politischen Diskurs eine besondere Aktualität bekommen. Im Kontext von political correctness fordern unterschiedliche Gruppen unter Berufung auf ihre besondere Identität eine sprachliche Sichtbarkeit, die ihr nach eigener Auffassung und mit sozial diskriminierenden Konsequenzen bisher verweigert wurde. Andere politische Gruppen fordern die Verteidigung und gar Bevorzugung der heimischen kulturellen, nationalen und ethnischen Identität, deren Erhalt sie durch Einwanderung gefährdet sehen.
Die Akademie forum masonicum möchte sich auf ihrer diesjährigen Tagung diesen Fragen stellen und hat dazu namhafte Experten aus den Bereichen Kulturwissenschaften, Philosophie und Kulturanthropologie eingeladen.

Programm

10:00
Begrüßung durch Dieter Ney, Vorstandsvorsitzender der Akademie forum masonicum e.V.

10:30
Vortrag von Professor Dr. Jörg Zirfas (Köln)
„Zur Historischen Anthropologie der Identität“

13:30
Vortrag von Stefan Weidner (Köln)
„Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken“

15:00
Vortrag von Professor Dr. Wolfgang Welsch (Berlin)
„Transkulturelle Identitäten“

Die Referenten

Stefan Weidner
studierte Islamwissenschaften, Germanistik und Philosophie und lebt heute als Autor, Literaturkritiker und Übersetzer in Köln. Von 2001–2016 war er Chefredakteur der vom Goethe-Institut herausgegebenen Kulturzeitschrift Fikrun wa Fann/Art&Thought. Er wurde 2006 mit dem Clemens-Brentano Preis (Stadt Heidelberg), 2007 mit dem Johann-Heinrich-Voß Preis (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung) und 2014 mit dem Paul-Scheerbart Preis (Ledig-Rowohlt Stiftung) ausgezeichnet. 2009/2010 war er August-Wilhelm-Schlegel Gastprofessor für Poetik der Übersetzung an der FU Berlin. 2011/2012 bekleidete er an der Universität Bonn die Thomas-Kling Poetikdozentur. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der deutschen Sektion des Pen-Clubs, außerdem Gründungsmitglied der Akademie der Künste der Welt zu Köln.

Professor Dr. Wolfgang Welsch
ist emeritierter Professor der Philosophie und lebt in Berlin. Er lehrte in Bamberg (1988–1993), Magdeburg (1993–98) und Jena (1998–2012). Gastprofessuren hatte er inne an der Freien Universität Berlin (1987–88), der Humboldt-Universität zu Berlin (1992–93), der Stanford University (1994–95) und der Emory University (1998). 1992 erhielt er den Max-Planck-Forschungspreis und 2016 den Premio Internazionale d’Estetica. Forschungsschwerpunkte: Anthropologie, Epistemologie und Ontologie, Theorie der Evolution, Philosophische Ästhetik und Kunsttheorie, Kulturphilosophie.

Professor Dr. Jörg Zirfas
ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie an der Universität zu Köln. Vorsitzender der Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft (DGfE), der Kommission Pädagogische Anthropologie (DGfE) und der Gesellschaft für Historische Anthropologie (FU Berlin); Mitglied des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung (FAU Erlangen-Nürnberg) und des Arbeitskreises Psychoanalyse und Lebenskunst (Berlin). Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische und Historische Anthropologie, Bildungsphilosophie und Psychoanalyse, Pädagogische Ethnographie und Kulturpädagogik.

Praktische Informationen
Veranstaltungsort: Logenhaus der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“, Heerstr. 28, Berlin-Charlottenburg

Rolf Keil: „Wir haben Ehrfurcht vor den alten Ritualen“

Beitrag zu:
Stile des Freimaurerischen – Vielfalt und Einheit der Freimaurerei (2017). Jahrestagung der Akademie forum masonicum e.V. in Berlin, Samstag, den 11. November 2017

„Wir haben Ehrfurcht vor den alten Ritualen“ … Der Umgang mit dem Erbe der Reformloge 

 

Und so erklären wir vor Gott und den Menschen, dass es der einzige Zweck unseres
Bundes sei, ein jedes seiner Glieder besser und der menschlichen Gesellschaft
dienlicher zu machen,und zwar durch Liebe und die Erforschung der Wahrheit.
(Generalabschied des Wilhelmsbader Convents 1782)

Liebe Brüder und Schwestern, liebe Gäste der Akademie.

Br. Dieter Ney bat mich, zur Reformmaurerei in Deutschland zu euch zu sprechen. Das Thema verdiente eine eigene Veranstaltungsreihe. Auch die Frage des Verhältnisses zu den Frauen, die, wie wir auch, am rauen Stein arbeiten, lasse ich unberührt, möchte aber anmerken, dass auch hier aus meiner Sicht ein wachsender Handlungsbedarf besteht.

Zunächst scheint es mir allerdings notwendig zu sein, einen Blick zurück zu werfen. Dann will ich auf die Situation der sich humanitär nennenden Freimaurerei nach 1945 eingehen und die Rolle, die die Loge Lessing im Einigungsprozess der Humanitären Freimaurerei einnahm. Schließlich möchte ich den Bogen zum hier und jetzt schlagen und mich der Frage widmen ob und wie sich die Reformtradition auf das Logenleben auswirkt. Schließlich gehe ich auf die Frage ein, wie sich die Logen aufstellen müssen um auch in Zukunft anschlussfähig zu sein.

„Freimaurerei war immer“ sagt Lessing in seinen Freimaurergesprächen. Auf diese These komme ich später zurück.

In Deutschland gibt es die Freimaurerei seit 1737, denn in diesem Jahr wurde in Hamburg, die „Loge d’Hambourg“ mit der Matrikelnummer 1 gegründet, die trotz ihres französischen Namens ihre Vorbilder in London hat. Heute heißt sie „Absalom zu den drei Nesseln“.  Schnell fast die Freimaurerei in Deutschland Fuß, schnell allerdings verändert sie sich auch. Das klare englische System der drei Grade wird durch die Einführung diverser Hochgrade drastisch verändert. Das Schwedische System des Freimaurerordens und die Strikte Observanz beherrschen die Szene. Es brauchte im Jahr 1782 den freimaurerischen Convent in Wilhelmsbad, um eine Gegenkraft zu etablieren. Nach dem Convent etabliert sich in Deutschland sozusagen ein duales freimaurerisches System: Die wesentlichen Bruchlinien verlaufen entlang der Frage, ob sich das Lehrgebäude der Freimaurerei in den drei Graden „Lehrling – Geselle – Meister“ vollständig mitteilt, wie Br. F. L. Schroeder glaubt oder  ob die drei Grade nur die ersten Stufen eines komplexeren Lehrgebäudes sind, wie es z.B. die „Große Landesloge“ vermittelt. Die zweite große Linie trennt die Deutsche Maurerei in eine strikt christliche Freimaurerei, währenddessen die sich entwickelnde „humanitäre“ Freimaurerei den Zirkel weiter schlägt und prinzipiell auch Juden aufnimmt. Freilich, die Grenzen sind fließend und verändern sich immer wieder einmal.

Hier, in der Aufarbeitung des Wilhelmsbader Convents liegt aus meiner Sicht einer der Anfänge der Reformmaurerei. Gleichzeitig wurde der Kern für den Dauerkonflikt zwischen „Christlicher“ und „Humanitärer“ Maurerei gelegt. Unnötigerweise, wie ich finde. „Meines Erachtens verhalten sich humanitäres und christliches Prinzip in der Freimaurerei wie konzentrische Kreise, von denen der humanitäre den größeren Durchmesser hat. Humanitäre Freimaurerei schließt alle Menschen und nicht zuletzt die Christen ein, christliche Freimaurerei schließt alle Nichtchristen aus.“[1], so Bruder Selter treffend. Leider gab es auf beiden Seiten wenige dauerhaft erfolgreiche Bestrebungen zum toleranten Umgang mit der jeweils anderen Auffassung von Freimaurerei. Stattdessen öffnete sich die Schere in der Bruderschaft weiter. Ficke, Settegast, Blunschli, Selter und viele mehr stehen für den Versuch, die Freimaurerei von ihrer Bindung an religiöse Vorgaben zu befreien, auf der anderen Seite nimmt der Dogmatismus beständig zu.

Die vorgegebene Zeit zwingt uns, einen Sprung ins 20. Jahrhundert zu machen. Die in Wilhelmsbad angelegte Trennung der Systeme hatte sich drastisch verschärft. Mit dem „Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne“ war 1907 eine Großloge geboren worden, die sich sogar in scharfer Abgrenzung zu allen anderen Obödienzen verstand. Der „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“ wandte sich gegen überkommene Formen. Radikal wurden Bibel und das Bekenntnis zum Allmächtigen Baumeister aller Welten gestrichen, auf Schurz und Handschuh wurde verzichtet. Selbstverständnis war es eine „Stätte für freie Männer zu sein, die die alten Freimaurerideale hochhalten, den alten Logen wegen ihrer Weltanschauung nicht beitreten können oder wollen“ [2]. Die Ideale des „Freimaurerbundes zur Aufgehenden Sonne“ wurden später von der „Symbolischen Großloge“ aufgenommen, die aber wieder zurück zu den traditionellen Ausdrucksformen zurückkehrte, um Anerkennungsfähig bei Logen im Ausland zu sein.

Die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erleben in Deutschland das komplette Versagen der freimaurerischen Idee vor der Realität des aufziehenden Nationalsozialismus. Die Humanitäre Freimaurerei schloss ihre Tempel mit der Machtergreifung 1933. Auch die Altpreußischen Großlogen, die nicht mehr als Freimaurer gelten wollten, waren seit dem Juli 1935 verboten und aufgelöst, die Logenhäuser enteignet, zweckentfremdet oder zerstört. Freimaurerei hatte einen schlechten Ruf, die Hetze von Ludendorff und den Nazis blieb nicht ohne Echo in den Köpfen der Menschen. Einige Großlogen hatten aktiv an diesem Ruf mitgewirkt, hatten sie doch bereits in den 20er Jahren unter ziemlich großzügiger Auslegung des zweiten Hauptstücks der „Alten Pflichten“ versucht, die Freimaurerei völkisch zu definieren und sich dann mit den neuen Machthabern nach 1933 zu arrangieren, zum Glück ohne Erfolg, jedoch mit großem Verlust für die Glaubwürdigkeit unseres Bundes hinsichtlich der Ernsthaftigkeit der von ihm propagierten Werte.

Diejenigen Logensysteme, die sich 1933 selbst auflösen, bleiben den humanitären Prinzipien treu und ihre aus damaliger Sicht „irregulären“ Brüder der „Symbolischen Großloge“ bringen das symbolische „freimaurerische Licht“, wie wir das nennen, nach Israel und Chile und hoffen, damit schon das Fundament für einen weitestgehend unbelasteten Neubeginn nach dem politischen Zusammenbruch von 1945 legen zu können. Die dunkle Zeit legte dann den Mantel des Schweigens über die Reste der deutschen Freimaurerei.

Sommer 1945. Deutschland lag in Trümmern. Die öffentliche Ordnung wurde von den Militärbehörden der Besatzungsmächte durchgesetzt. Vielerorts war die Infrastruktur völlig zerstört, Millionen Menschen irrten durch Europa, waren entwurzelt, vertrieben, verschollen oder getötet. Der Aufbau und die Struktur des „neuen“ Deutschland waren noch im Nebel. Die Freimaurerei in Deutschland war nicht mehr existent. In dieser schwierigen Zeit, in der das nackte Überleben die Notwendigkeiten diktierte, in dieser Zeit gab es glücklicherweise Männer, in denen das maurerische Licht die Dunkelheit überdauert hatte.

Meine Frankfurter Mutterloge „Lessing“ ist aus den beiden Logen „Goethe“ und „Spinoza“ in Frankfurt und Offenbach hervorgegangen. Die Wurzeln liegen im „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“. 1907 wurde in Offenbach die Loge „Sokrates“ des „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“ gegründet, später im Oktober 1930, erfolgte der Übertritt zur „Symbolischen Großloge“. Im Sommer 1945 fand sich ein kleiner Bruderkreis dieser beiden Logen zusammen, um zunächst einmal festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Fortsetzung oder Gründung einer Loge gegeben seien. Rasch war klar, dass die beiden Logen „Spinoza“ und „Goethe zu den drei Säulen“ durch den Krieg zu ausgezehrt waren, um Sie wieder zu beleben.

Br. Emil Selter, der Gründer der Loge „Lessing“ und deren beherrschende Figur, beschreibt diese historisch zu nennende Zusammenkunft in den Trümmern Frankfurts in seiner Festrede anlässlich des fünfundzwanzigsten Jahrestages der Logengründung:

 „26. September 1945, ich sehe eine beengte Wohnung am Kaiserplatz in Frankfurt, Bruder Geier hat elf Männer zu sich eingeladen, Freimaurer, der Verfolgung des Naziregimes entgangen, den Schrecken des Krieges entronnen, entschlossen einen neuen Anfang zu machen, eingedenk aller Lehren der Vergangenheit. Die Logennamen „Spinoza“ und „ Goethe zu den drei Säulen “ können wieder ausgesprochen werden, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Andere Logennamen tauchen auf, erwecken schmerzliche, erhebende oder mitleidige Erinnerungen, Systeme werden geprüft, Orientierungshilfen aus dem Gedächtnis hervorgeholt, alles vermengt mit den Fragen, wo ist der, wo ist jener, unterbrochen mit Nachrichten aus der Gefangenschaft, aus Konzentrationslagern und fernen Ländern der Emigration. Deprimierendes wird zur Herausforderung, bittere Erfahrung zur Quelle bedeutender Energien.

Der Name Lessing fällt, Inbegriff der Fröhlichkeit und Skepsis, geistreicher Aperqus und scharfem Blick für die menschlichen Schwächen, ein würdiger Name für eine Loge, sprudeln der Quell von Ideen und Eigenständigkeit.

Der Anfang war gemacht, der Kampf mit der Bürokratie, mit den Besatzungsmächten konnte beginnen. „ The big brother is watching You.“[3]

Die neue Loge gab sich ein Hausgesetz, indem auch Stellung zur Neuordnung der Freimaurerei in Deutschland genommen wird:

„Beseelt von dem Wunsch, die im Jahr 1933 unterbrochene freimaurerische Arbeit wieder aufzunehmen, erfüllt von dem Verlangen, die Arbeit unbekümmert um politische Streitigkeiten und fern vom Lärm der Straße fortzuführen

  • in Ehrfurcht vor dem A.B.a.W
  • zum Besten des Deutschen Volkes
  • zum Wohle der ganzen Menschheit

haben sich die Unterzeichnenden Brüder Freimaurer zu einer Loge zusammengeschlossen und ihr den LESSING gegeben, um einen großen Freimaurer zu ehren. Sein geistiges Vermächtnis soll ihnen Ansporn und Verpflichtung sein.
In Anbetracht der völlig unübersichtlichen Verhältnisse und in der Absicht mit allen Kräften am Aufbau EINER großem Deutschen Bruderkette mitzuwirken, haben die gründenden Brüder beschlossen, dass die Loge bis zur Errichtung einer einheitlichen deutschen Großloge eine UNABHÄNGIGE LOGE sein und bleiben soll.“
[4]

Diese Unabhängigkeit sollte sich auch im Ritual niederschlagen. Anstelle der früher verwendeten Rituale sollte eines treten, dass die unterschiedlichen Traditionen aufgreifen und allen Lehrarten gerecht werden sollte. Das Ritual der „Lessing“, dass heute zu den Traditionsritualen innerhalb der „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland“ zählt und das als eines von nur drei zugelassenen Ritualen neben der Bibel auch das weiße Buch auflegt, wurde von Emil Selter zunächst in den Jahren 1945/1946 aus dem Gedächtnis niedergeschrieben.

Im Lauf des Jahres 1946 erhält die Aufnahmehandlung ihre heutige Ausprägung. Im Grundgerüst lässt sich Selter vom Ritual der „Großloge zur Sonne“ in der Fassung von 1873 leiten, die nachfolgend gelegentlich als Bluntschli Ritual oder Sonnenritual bezeichnet wird. Gleichzeitig reichert er das Ritual um Bestandteile aus anderen Lehrarten an, um dem selbst gestellten Anspruch der Loge „Lessing“ – eine Einigungsloge sein zu wollen – gerecht zu werden. So finden sich Elemente aus der „Symbolischen Großloge“, aus dem „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“ (aus dem die Vorgängerlogen der „Lessing“ hervorgegangen sind, bevor sie in die „Symbolische Großloge“ wechselten), aus der schottischen Maurerei und aus der Prager Großloge „Lessing zu den 3 Ringen“ und aus dem Ritual der „Großen Landesloge“. Innerhalb der Rituale der Großloge zur Sonne finden wir Anleihen an das Freiburger Ritual von Ficke aus dem Jahr 1865, aus dem Ritual der Loge „Zur Bergischen Freiheit“ und von der Loge „Allvater zum freien Gedanken“ aus Lahr, die beide von Paul Selter geschrieben wurden, sowie von der Loge “Theodor zum bergischen Löwen“ in Düsseldorf.

An dieser Stelle vielleicht kurz zur Frage, wieso überhaupt ein neues Ritual? Die Logen „Spinoza“ und „Goethe“ hatten ja zur „Symbolischen Großloge von Deutschland“ gehört und deren Ritual bearbeitet, somit wäre es möglich gewesen, weiter nach diesem Ritual zu arbeiten. Für die Brüder der „Lessing“ war allerdings sehr früh klar, dass die neue Loge nicht die (Wieder-)Aufnahme in die „Symbolische Großloge“ anstreben sollte. Zu präsent war die die Zersplitterung der deutschen Freimaurerei vor der dunkeln Zeit. In einem Entwurf für ein Hausgesetz aus dem Jahr 1946 heißt es: „Die Loge „Lessing“ bearbeitet ein eklektisches Ritual.“ Die Loge Lessing erklärte sich also für unabhängig von bestehenden Obödienzen, bis zur Einigung der deutschen Freimaurerei. „Nach dem fürchterlichen Zusammenbruch, ist kein Platz mehr nach Machtverlangen, Geltungssucht, Vorteilsstreben, Ichsucht von einzelnen Logen oder Großlogen. Entscheidend ist die freimaurerische Haltung … Die Aufgabe lautet: Sollen wir, obwohl wir alle Freimaurer sind, uns weiter fremd gegenüberstehen, oder sollen wir eine Form finden, in der die Freimaurerei sich einigt“[5], schreibt Br. Selter an anderer Stelle.

Von den altpreußischen Großlogen ging der Vorschlag aus, dass alle deutschen Logen einen gemeinsamen Antrag stellen sollten, den Status vor 1933 wiederherzustellen. Dieser Antrag entsprach nicht den Vorstellungen der humanitären Logen.

Am 14. und 15. Juni trafen sich unter Vorsitz von Br. Pauls in Frankfurt am Main 23 Mitglieder früherer Großlogen aller Lehrarten, mit Ausnahme der „Großen Landesloge“. Die „Symbolische Großloge“ wurde bei der Tagung, die als Frankfurter Konvent in die Annalen der deutschen Freimaurerei einging, von Br. Emil Selter vertreten. Die Loge „Lessing“ organisierte die Tagung und Br. Georg Geier stellte seine Geschäftsräume für die Beratungen zur Verfügung. Als Ergebnis dieser Zusammenkunft wurde die „Frankfurter Arbeitsgemeinschaft von Freimaurerlogen“ gegründet, die „Brücke und Übergang zur einzigen Großloge“ sein müsse. Die Loge „Lessing“ trat noch am selben Tage offiziell als erstes Mitglied bei. In einer Resolution wurde beschlossen, dass es „fortan nur eine Johannisfreimaurerei in Deutschland geben solle, für die christlich und humanitär nichts Trennendes sei“.[6] Weitere Kernforderungen waren: Demokratie nach innen, Ritualfreiheit für die Logen, Toleranz und die Achtung vor der individuellen Freiheit. Br. Emil Selter wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft gewählt und Br. Geier, ebenfalls Mitglied der Loge „Lessing“, wurde Geschäftsführer. Den Vorsitz führte Dr. Dr. Pauls, ein Ehrenmitglied der „Lessing“. Auch der spätere Großmeister der „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer“, Br. Theodor Vogel, der den Konvent mit angeschoben hatte, nahm aktiv an den Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft teil.

Als Folge der Lockerung der Bestimmungen der Militärregierungen wurden im Laufe des ersten Halbjahres 1948 Landeslogen in den verschiedenen Ländern gebildet. Am 18. Juni 1948 sollte in der Paulskirche in Frankfurt am Main der ersten deutschen Nationalversammlung gedacht werden. Hierzu wurde auf Beschluss der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft, die mittlerweile 125 Logen umfasste, am Vortage zu einer feierlichen Tempelarbeit eingeladen. Vorbereitung, Einrichtung des Tempels und das Ritual lagen weitestgehend in der Verantwortung der Loge „Lessing“. Das verwendete Ritual basierte im Wesentlichen auf dem Ritual des Lehrlingsgrades der Loge „Lessing“ und ist im Original erhalten. Die Arbeit wurde von Emil Selter geleitet. Selter und andere hofften den Schwung der Versammlung zur Ausrufung einer Einheitsgroßloge zu nutzen. Dazu sollte es nicht kommen, denn Br. Theodor Vogel kündigte an, dass sich die von ihm vertretenen 31 bayrischen Logen widersetzen würden. Damit hatte Br. Vogel seinen Führungsanspruch deutlich gemacht. Am nächsten Tage wurde in Frankfurt der „Deutsche Großmeisterverein“ unter seiner Führung ins Leben gerufen. Vier Monate später wurde von dem Großmeisterverein in Kissingen die „Vereinigte Großloge der Freimaurer von Deutschland“ gegründet. Die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft, deren Ziele weitgehend erreicht waren und die dieser Gründung maßgeblich den Weg gebahnt hatte, löste sich auf. Der Versuch des Reformlagers zu einer Großlogengründung von „Unten“ war gescheitert.

In der Rückschau muss man konstatieren, dass Br. Theodor einen weiteren Blick auf die gesamte Freimaurerei hatte. Die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft hatte von Anfang an verlangt, dass sich in dieser Arbeitsgemeinschaft nur Logen sammeln sollen, die sich frei entscheiden können, also nicht abhängig sind von den Weisungen ihrer ehemaligen Großlogen. Damit waren die Logen der „Großen Landesloge“ außen vor und sie wurden auch nie zu den Verhandlungen hinzugezogen. Im Gegensatz dazu hat Br. Vogel immer auch mit den Vertretern der „Großen Landesloge von Deutschland“ Kontakt gehalten und versucht, sie in die Einigung einzubeziehen.

Die „Große Landesloge von Deutschland“ trat der gegründeten „Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland“ trotz aller Bemühungen von Br. Vogel nicht bei. Zu unüberwindbar waren die Gegensätze, vor allem in der Frage des von der „Großen Landesloge“ verlangten christlichen Bekenntnisses und der Hochgrade. Dennoch war die Gründung der „Vereinigten Großloge von Deutschland“, die später die „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer“ wurde,  ein wichtiger Teilerfolg auf dem Weg zur Einheit.

Im Wesentlichen sind die Forderungen der Reformer in der Verfassung der „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer“ erfüllt. Die Logen haben eine große Freiheit in ihren inneren Angelegenheiten, Distriktmeister sind keine Provinzfürsten, sondern Verwaltungsposten im Auftrag auch der Stuhlmeister, es herrscht Ritualvielfalt. Posthum wurde selbst dem früher verfemten „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“ Gerechtigkeit zuteil. „Der Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne (F:Z.A.S.) hat sich 1907 mit universeller und liberaler Deutlichkeit erklärtermaßen gegen solch konservative Hintergründe konstituiert, um ‘die Menschheit aus den engen Fesseln der Konfessionen und der dogmatischen Weltanschauungen herauszuheben und sie auf den Boden des reinen Menschtums zu stellen’ (Großmeister Dr. Curt Rothe).[7] Heute sehen wir in dieser Grundhaltung Wurzeln unserer liberalen Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, die erst 1949 aus den jahrhundertealten Traditionen freien Denkens gegründet wurde.“ Auf dieser programmatischen Grundlage hat die Loge Lessing seit ihrer Gründung gearbeitet und tut es noch.

Die Loge war auch immer aufs engste mit dem Wiedererstehen des „Alten und Angenommenen Schottischen Ritus“ in Deutschland verbunden. Selter war im ersten Obersten Rat, die Souveränen Großkommandeure Pauls, Geier, Hendrickson und Lott gehörten der „Lessing“ an, ebenso wie zahlreiche Träger des 33. und letzten Grades des „Alten und Angenommenen Schottischen Ritus“.

Die junge Loge profitierte lange Zeit von diesem aufklärerischen und kämpferischen Geist und umfasste Anfang der 60er Jahre 120 Brüder! Das Durchschnittsalter lag bei 51 Jahren, deutschlandweit war sie berüchtigt. Ich habe in den 90er Jahren einmal eine Loge in Hamburg besucht, und als man mein Bijou entziffert hatte, hauchte der Bruder „Die Lessing! Du Armer! Bei euch geht es ja hoch her!“

Dann setzte der Sinkflug ein, der bis 2008 anhielt und die Loge auf ca. 40 Brüder schrumpfen ließ, von denen aber höchstens 15 aktiv waren. Wie ist es dazu gekommen? Die Rückschau zeigt verschiedene Gründe. Zum einen war das geistige Niveau der Loge zweifellos sehr hoch, entsprechend waren auch die ausgeprägten Diskussionen der Klubabende. Sie waren aber zu einem Ritual verkommen, bei dem sich die Brüder selbst genug waren. Gäste wurden abgeschreckt, eine ganze Generation wurde nicht erreicht oder verließ die Loge frustriert. Wenn man sich durch die alten Akten wühlt, erhält man den Eindruck, dass menschliche Wärme fast gänzlich gefehlt hat bzw. nicht für wichtig erachtet wurde. Es zeigen sich Ego-getriebene Auseinandersetzungen, Verletzungen und Enttäuschungen. Es gab Fraktionierungen, auch kleinere, abgeschottete Kreise. Insgesamt herrschte also ein Klima, dass alles andere als einladend war. Ein zweiter Grund für den Rückgang der Attraktivität ist darin begründet, dass das Wissen um die Gründungszeit und die sich aus ihr ergebenden Strukturen und Besonderheiten der Loge weitgehend vergessen wurde. Wer seine Traditionen aber nicht begründen kann, der kann sie auch nicht glaubwürdig leben. Der dritte Grund lag in der mangelnden Pflege des rituellen Aspekts begründet. Das Lessing Ritual unterscheidet sich in vielen Details vom Ritual der „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer“, es hat aber an einigen Stellen Einfluss auf die Entstehung dieses Rituals genommen.

All das zusammen hat dazu geführt, dass wir uns 2008 der Frage ausgesetzt sahen, ob die Loge sich einer anderen bestehenden Loge in Frankfurt anschließt. Zum Glück ist es anders gekommen.

Was war dazu nötig? Eine entschlossene Mannschaft von jungen Brüdern, die den Wert der Loge erkannten und erhalten wollten. Wir arbeiteten unsere Geschichte auf, achteten auf Ritualtreue und wollten auch verstehen, warum das Lessing Ritual anders ist. Im Ritual zeigt sich das Reformerbe am Augenfälligsten, ich gehe gerne in der Diskussion näher darauf ein. Unseren Ruf als Diskussionsloge wollten wir verteidigen, allerdings legten wir viel Wert auf einen herzlichen Umgang miteinander. In aller Regel folgt an Clubabenden auf einen Input, eine Diskussion, die selten weniger als 90 Minuten dauert. Hier wird auch hart argumentiert, aber es wird streng darauf geachtet, dass niemand als Verlierer vom Platz geht. Wenn sich das Erbe der Reform bemerkbar macht, dann an dieser Stelle. Die Diskussionskultur wird von vielen Brüdern, die uns besuchen, als ziemlich einzigartig beschrieben. Wir haben Gästeabende strukturiert und uns um Nachwuchs gekümmert. Die Loge umfasst heute 57 Brüder, das Durchschnittsalter liegt bei 52 Jahren. Bleibt die Frage, ob das Erbe der Reformloge noch einen Wert besitzt, der in die Zukunft trägt. Da bin ich skeptisch.

Mit der Gründung der „Vereinigten Großlogen von Deutschland“ wurde eine Organisationsform gefunden, die größtmögliche Freiheit der Logen und Großlogen garantiert und es ist gelungen, die Zeichen auf Zukunft und Wachstum zu stellen. Die Brüder nehmen diesen Zustand als selbstverständlich hin. Unterschiedliche Rituale werden eher als folkloristische Besonderheiten, denn als inhaltlich begründete erlebt. Auch in meiner Mutterloge wäre es so, wenn sich nicht jemand findet, der sich als Hüter der Flamme versteht und jungen Brüdern zu vermitteln versucht, was die Besonderheit der Loge „Lessing“ und ihrer Tradition ausmacht.

Viele Inhalte der Reformmaurerei haben sich in Deutschland durchgesetzt. Die „Großloge der Alten Freien und Angenommen Maurer“ sieht in der Reformmaurerei einen sie stark prägenden Einfluss, der sich in der liberalen Denkart und auch in der Ritualvielfalt der Großloge zeigt. Die Reform ist also Mainstream geworden, könnte man meinen. Während ich davon überzeugt bin, dass die Reformmaurerei als Label sich überlebt hat, gilt das nicht für die Inhalte: Hier glaube ich, dass sich die Logen in Deutschland weiter an die Denkschulen der Reformbewegung anpassen müssen, wenn sie anschlussfähig bleiben wollen.

Was heißt das konkret?

  1. Die Freimaurerei ist zunächst und vor allen Dingen eine persönliche Lebensreise. Allerdings enthält die Freimaurerei in ihren Ritualen einen klaren Handlungsauftrag: „Geht nun zurück in die Welt, meine Brüder, und bewährt euch als Freimaurer. Wehret dem Unrecht, wo es sich zeigt, kehrt niemals der Not und dem Elend den Rücken, seid wachsam auf euch selbst.“ Es reicht also nach meiner Auffassung nicht, dass sich unsere Logen in falsch angewandter Exklusivität darauf zu beschränken ein jedes ihrer Mitglieder besser zu machen. Oder um in der Sprache unserer Symbolik zu sprechen, den Bruchstein zum Baustein zu glätten und darüber den Schlussstein, der erst den Bau vollendet, zu vergessen. Denn die Aufgabe der Freimaurerei, die bereits 1782 in Wilhelmsbad formuliert wurde, nämlich „ein jedes ihrer Glieder der menschlichen Gesellschaft nützlicher zu machen“, bleibt bestehen. Der Blick nach innen greift zu kurz! Der Maurer soll in die Gesellschaft hinein wirken. Die Freimaurerische Ethik ist eine Handlungs- und Einübungsethik. Um in der Welt zu wirken, müssen wir die Welt bis zu einem bestimmten Grad bei uns einlassen und wir müssen uns auf die Welt einlassen.
  2. Die Freimaurerei darf sich nicht als eine Organisation zur Pflege gehobener Geselligkeit umrahmt von ehrwürdigen Gebräuchen begreifen. Das kann jeder Lions Club besser. Freimaurerei ist Arbeit! Arbeit an uns selbst, Arbeit am Tempel der Humanität, dessen Baugrund, Baustein und Baumeister der Freimaurer sein will.
  3. Die Freimaurerei darf nicht der Versuchung erliegen, aus dem Bedürfnis nach Frieden und Ruhe heraus, alles aus den Leben der Logen fernzuhalten, was auch nur im Geringsten geeignet erscheint, gegensätzliche Auffassungen in Erscheinung treten zu lassen und so die Gemüter in Wallung kommen zu lassen.

Ich bin davon überzeugt, dass die Freimaurerei auch in den nächsten 300 Jahren noch eine Notwendigkeit sein wird, in welcher Form sie sich dann auch immer präsentiert. Denn wie Lessing zu Recht bemerkt, ist sie der bürgerlichen Gesellschaft immanent. Ob sie in der heutigen Form eine Zukunft haben wird, hängt davon ab wie wir, die Maurer von heute mit ihr umgehen. Die Chancen sind gut, denn die Logen haben ein Alleinstellungsmerkmal: Ganz gleich ob Wirtschaftsklub, Gewerkschaft, politische Partei oder Religionsgemeinschaften, alle machen sich der gleichen Sünde schuldig: der des Selbstgesprächs oder des Schwimmens in der Filterblase. Sozialdemokraten gehen in sozialdemokratische Versammlungen, CDUler zur CDU, Gewerkschaftler besuchen ihre Zusammenkünfte und Geschäftsleute die ihren. Was dort in aller Regel stattfindet, ist eine Selbstbestätigung. Man hört Menschen zu, deren Ansichten sie man ohnehin teilt, die Redner freuen sich, den rechten Ton getroffen zu haben. Aber ein Austausch findet nicht statt, Glaubenssätze werden nicht hinterfragt. Hier liegt eine große Aufgabe und Chance der Freimaurerei! Wir müssen weiterhin versuchen, die Angehörigen aller gesellschaftlichen Gruppen zusammenzuführen. In großer Weisheit hat Anderson es schon in den Alten Pflichten aufgezeigt, wenn er schreibt, die Freimaurerei sei eine Stätte „der Einigung und ein Mittel, wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften, die einander sonst ständig fremd geblieben wären.“

Dabei dürfen wir nicht dem alten Fehler der Deutschen Maurerei anhängen, die Logen lediglich als Organisation des aufwärts orientierten Bürgertums zu definieren und sich damit abzuschotten gegen Menschen, die aus bescheideneren Verhältnissen kommen. Freimauerei verlangt keinen besonderen Bildungsabschluss und schon gar kein Gehaltsniveau. Gefordert wird lediglich die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und der ernsthafte Wunsch an der Selbstvervollkommnung zu arbeiten.

Politische Zankereien sind in der Loge tabu, ebensolche über die Konfessionen. Aber wo, wenn nicht im geschützten Setting unserer Logen, können wir offen sprechen, unsere Standpunkte überprüfen und das tun, was laut Lessing eine der größten Freuden ist: laut Nachdenken mit einem Freund! Die Loge bietet einen geschützten Raum, der erst Entwicklung und das Aufeinander-Zubewegen ermöglicht. Der geschützte Raum der Logen ermöglicht es, die eigene Position zu hinterfragen, ohne dass dies als Schwäche ausgelegt wird. In unseren Diskursen geht es nicht darum zu gewinnen, sondern es geht darum, möglichst viele Sichtweisen kennenzulernen, sie abzuwägen und vielleicht den eigenen Standpunkt weiter zu entwickeln. So verändern wir uns, und schließlich die Welt! Dieses „laut mit einem Freund Denken“ funktioniert übrigens nur in der realen Loge, nicht in der virtuellen Welt der sozialen Medien. Um das Gegenüber mit seinen Argumenten tatsächlich zu würdigen, bedarf es des ganzen Spektrums menschlicher Ausdrucksformen auf beiden Seiten.

Die Loge ist der ideale Ort um gesellschaftlich Relevantes zu besprechen. Sind wir politisch in diesem Sinn? Trauen wir uns auch die Felder zu beackern, bei denen wir am Ende nur darin übereinstimmen, dass wir nicht übereinstimmen? Gerade in einer Zeit, in der die Zentrifugalkräfte an Stärke gewinnen, braucht es einen Raum, in dem der Mensch dem Menschen begegnet. Und tragen wir unseren Standpunkt wieder und wieder in die Gesellschaft zurück! Jeder als Einzelperson, aber vereint im unsichtbaren Band! Wenn wir weiter darauf achten, dass wir einander in brüderlicher Liebe begegnen, den geistigen Kampf nicht zum Streit, die Diskussion nicht zur Disharmonie werden lassen, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Auch das ist eine Lehre aus der Reformtradition, die es oft nicht geschafft hat, den Aspekt der brüderlichen Liebe wirklich zu leben, sondern auch eine Geschichte der fortwährenden Abspaltungen war. Der kalte Intellekt alleine reicht nicht, um erfolgreich in der Kette am Tempel der Humanität zu bauen. Es braucht die Brücke zwischen Emotionalität und Intellekt, und es braucht den Mörtel der Bruder- und Menschenliebe. Wenn wir dann auch noch daran festhalten, der Freude, dem Spaß und der offenen Herzlichkeit einen Platz in der Arbeit und in unseren Herzen einzuräumen, dann mache ich mir keine Sorgen.

Der Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne forderte von seinen Mitgliedern für „ihre Ideen jederzeit furchtlos und unerschrocken einzutreten, Unrecht an Schwachen und Unterdrückten nicht zu dulden, für Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschenliebe jederzeit die blanken Waffen des Geistes tatkräftig zu gebrauchen. Denn den wahren Freimaurer ziert der Wille zur Leistung, seine wahre Feier ist die Tat“[8].
Wie ich finde, auch heute noch ein ehrenwerter Auftrag!

Meine Mutterloge Lessing eröffnet jede rituelle Arbeit mit den drei programmatischen Sätzen aus Ernst und Falk. Sie beschreiben unsere Aufgabe treffend:

„Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaften hinweg wären und genau wüssten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört.“

Wie ungeheuer aktuell sind jene Zeilen heute, wo der große Verführer, der Nationalismus wieder sein Haupt erhebt.

„Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem Vorurteile ihrer angeborenen Religion nicht unterlägen, nicht glaubten, dass alles notwendig gut und wahr sein müsste, was sie für gut und wahr erkennen.“

Auch hier liegt die Aktualität auf der Hand.

„Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt, in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herablässt und der Geringe sich dreist erhebt.“

Unsere Aufgabe ist es, eine Brücke zu bauen, auf der sich Menschen auf Augenhöhe begegnen können! Da liegt in echter reformmaurerischer Tradition noch ein weiter Weg vor uns!

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

[1] Emil Selter: „Das Humanitäre und das Christliche Prinzip in der Freimaurerei“. Von der Freiheit des Freien Maurers; Selbstverlag Loge Lessing, Frankfurt, S. 134

[2] Programm des Freimaurerbundes zur Aufgehenden Sonne 1911, S.5

[3] Rede zum 25jährigen Bestehen der Loge Lessing Nr. 769, Logenakten

[4] Entwurf Hausgesetz , Logenakten Lessing

[5] „Von der einen Freimaurerei“, Vortrag 1946, Logenakten

[6] Protokoll des Frankfurter Konvents

[7] GM Jens Oberheide, in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Loge „Zur Wahrheit“ in Nürnberg

[8] Handbuch des F.Z.A.S. 1.Abschnitt, S.7

 

Susanne Balazs: Le Droit Humain, eine freimaurerische Organisation für Männer und Frauen

Beitrag zu:
Stile des Freimaurerischen – Vielfalt und Einheit der Freimaurerei (2017). Jahrestagung der Akademie forum masonicum e.V. in Berlin, Samstag, den 11. November 2017

Le Droit Humain, eine freimaurerische Organisation für Männer und Frauen – was bedeutet das für die freimaurerische Idee und für den freimaurerischen Alltag in den Logen?

In diesem Jahr feiert die Freimaurerei ihren 300. Geburtstag. Die Zeitrechnung beginnt zu Gründung der Großloge von London und Westminster 1717 zu ticken obwohl die nachweisbaren Wurzeln bis in das 16. Jahrhundert zurück reichen. Doch auf diesen Zeitpunkt datiert sich der Auftakt für eine weltweite geistige Bewegung, welche Moral, Ethik und Kultur beeinflussen vermochte. Sie blieb über fast zweihundert Jahre eine rein männliche Domäne. Werte, wie Toleranz, Humanität und Menschenliebe sind wohl Grundsäulen der Freimaurerei, doch blieb etwa fünfzig der Menschheit davon ausgeschlossen. Frauen blieben in den Logen unerwünscht.

Wenn man die Frage stellt, ob dies auch heute noch der Fall sei, kommt die Antwort darauf an, wen man gefragt hat. Ist das z.B. die Vereinigte Großloge von England, wird die Antwort „ja“ heißen, Freimaurer seien ausschließlich Männer. Gemischte Logen, also Logen in denen Männer und Frauen Mitglieder sind, seien nicht regulär.

Erst langsam begann sich diese Situation zu ändern, erst mit der immer größer und stärker werdenden feministischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich. Erst 1893 war es soweit, dass Le Droit Humain, ein Freimaurerorden für Männer und Frauen, in Paris gegründet werden konnte. Die neuen Ideen einer sogenannten „gemischten Freimaurerei“ haben weltweit ein Echo gefunden; es kam recht bald, noch vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges,  von Frankreich aus zur Ausbreitung des Ordens in andere Länder Europas und dann auf andere Kontinente. Über diese Organisation will ich heute berichten, wo ich seit 1979, also seit 38 Jahren Mitglied bin.

Die großen Persönlichkeiten die Le Droit Humain gegründet haben, waren (selbstverständlich eine Frau und ein Mann) Maria Deraismes und Georges Martin – es ist wichtig sich ein wenig mit ihren Persönlichkeiten auseinander zu setzen, denn nur in Kenntnis ihrer Lebensgeschichte versteht man die wesentlichen Züge der Organisation heute.

Maria Deraismes, eine für ihre Zeit außerordentlich gebildete Frau aus der aufstrebenden, erfolgreichen französischen Mittelschicht, war ein Leben lang Kämpferin für Rechte der Frauen und für die Rechte der Kinder, Kämpferin für eine gerechtere Gesellschaft und für die Trennung von Kirche und Staat. Durch ihre Reden und Publikationen war sie eine berühmte und gefeierte Person der Gesellschaft ihrer Zeit.

Sie ist ein Jahr nach der Gründung des Le Droit Humain verstorben. Somit konnte sie zum Auf-und Ausbau dieser neuen Obödienz durch ihren geistigen Nachlass sehr viel, doch in der Praxis nur wenig beitragen.

George Martin, oder mit seinem vollen Namen Marie Hippolyte Georges Martin, war Arzt in Paris. Man nannte ihn den Arzt der armen Leute. Er engagierte sich immer für die Entrechteten. Deshalb wechselte er nach zehn Jahren medizinischer Tätigkeit in die Politik, um dort mit seinen Aktivitäten für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen.

Als 1893, also vor fast 125 Jahren, Le Droit Humain gegründet wurde, geschah es mit dem Vorhaben – ich zitiere Georges Martin – „einen Masonischen Tempel zu gründen, welcher auf freiem Denken, Moral, Solidarität und soziale Gerechtigkeit ruht“.

Le Droit Humain wurde also von Anfang an von Ideen der Aufklärung getragen, und die drei Schlagwörter der Französischen Revolution erklingen noch heute am Ende jeder Arbeit in den Logen, nämlich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

George Martin, in eine wohlhabende bürgerliche Familie geboren, verstarb während des Ersten Weltkrieges als armer Mann. Er investierte mit seiner Frau das gesamte Familienvermögen in den Bau des zentralen Gebäudes des Le Droit Humain in Paris. Es ist noch heute ein beeindruckendes Gebäude im ägyptischen Stil, wie es an der Jahrhundertwende in Europa hoch modisch war. Dies war ein beispielloser persönlicher Einsatz für die Etablierung des Ordens und seiner Ideen. In die Fassade ist ein beachtenswerter Satz eingemeißelt, auf Entfernung gut lesbar: „ In der Menschheit hat die Frau die gleichen Aufgaben wie der Mann, sie soll die gleichen Rechte in der Familie und in der Gesellschaft haben.“ Dies war und ist eine Grundidee, ein Programm und ein Unterscheidungsmerkmal zu den rein männlichen Logen.

An diesem Punkt möchte ich kurz stehen bleiben. Das heutige Programm legt seinen Schwerpunkt auf die Vielfalt und gleichzeitig auf die Einheit der Freimaurerei. Wenn ich die gravierende Differenz für eine kurze Weile außer Acht lasse, nämlich die gleichwertige Mitbeteiligung der Frauen und Männer an den Arbeiten in unseren Logen, bleibt die Frage offen, wie weit Differenzen bzw. Überschneidungen in der Form und in den Inhalten mit anderen freimaurerischen Organisationen zu finden sind? Diese Frage ergibt sofort die nächste: Wer sind die so genannten Anderen?

Die heutige freimaurerische Welt ist sehr weit aufgefächert. Fragen wir, woher rekrutieren sich die Mitglieder, ist die naheliegendste Antwort: Es gibt rein männliche, rein weibliche und gemischtgeschlechtliche Organisationen. Diese Einteilung macht die Antwort aber auch nicht einfacher, denn diese drei Gruppen zerfallen in weitere Untergruppen: einerseits je nach verwendeten Rituale, die sie bei ihren Arbeiten verwenden, aber auch je nach Systeme, die ihre Struktur bestimmen. Sind sie Hochgradsysteme, und wenn ja, welche, oder beharren sie z.B. im Schröderschen System, in dem sie ausschließlich drei Grade bearbeiten.

Ich möchte mich in diese Fragen erst gar nicht verirren. Ich möchte vielmehr jene Ordinaten angeben, welche für unsere Arbeit charakteristisch sind. Sprechen wir am einfachsten über Form und Inhalt der Arbeitsweise des Internationalen Freimaurerordens für Männer und Frauen Le Droit Humain. Wir werden im Weiteren sehen, dass diese zwei Komponenten sich gegenseitig beeinflussen.

Georges Martin als Präsident der 1880 gegründeten Symbolischen Schottischen Großloge und sein Nachfolger in diesem Amt, ließen grundsätzlich nach den Alten und Angenommenen Schottischen Ritus arbeiten, welcher die Struktur der Obödienz vorgab. Dieser Ritus legt fest, dass wir die beinhalteten 33 Grade in ihrer initiatorischen Abfolge bearbeiten. Dieser letzte Satz dürfte für Nicht-Freimaurer eher chinesisch klingen. Ich versuche mich verständlicher auszudrücken. In den Zünften der mittelalterlichen aber auch späteren europäischen Handwerkerordnung war das Erlernen des Handwerks auf drei aufeinanderfolgenden Stufen aufgebaut, auf die Stufen des Lehrlings, des Gesellen und schließlich des Meisters. Was bedeutet das in der Praxis? Dies war und ist die Strukturierung eines Lernprozesses. Diese Ausbildungsstruktur hat die Freimaurerei von den Dombauern übernommen. Man nennt die Logen, welche in diesen ersten drei Graden das freimaurerische Wissen Stufe für Stufe ihren Mitgliedern mitteilen, die so genannten blauen oder symbolischen Logen. Die Aufnahme in die aufeinander folgenden nächsthöheren Stufen nennt man Einweihung oder Initiation; das Wandern von Grad zu Grad nennt man den initiatorischen Weg. Wir also bearbeiten, wie zuvor gesagt, die 33 Grade in ihrer initiatorischen Abfolge.

Der Meister hat vieles erfahren, er oder sie ist ein kompletter Freimaurer, doch kein vollkommener, wie Georges Martin es ausgedrückt hat; zu diesem wird man erst durch Erlernen der Inhalte in den folgenden Graden, die in Gegensatz zu ihrem üblichen Namen keine Hochgrade, sondern vielmehr philosophische oder Vertiefungsgrade sind. Diese teilen sich in vier, nacheinander geschalteten Logen. Dieses System wurde im 18. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten erarbeitet und verbreitete sich von dort nach Europa. Unserem Freimaurerorden, der also wie gesagt auf den Alten Angenommenen Schottischen Ritus basiert, steht ein gewählter Oberste Rat und dessen Vorsitzende, der Großmeister, vor.

Die weiteren Gesichtspunkte ergeben sich aus den vier grundlegenden tragenden Säulen, die einerseits die spezifischen Eigenheiten des Le Droit Humain skizzieren, andererseits auch eine Übereinstimmung mit allgemeinen Freimaurerischen Inhalten zeigen, welche unser aller Anliegen sind.

Was sind diese vier tragenden Prinzipien? Kurz aufgezählt:
1. die Gleichheit von Männern und Frauen
2. die Internationalität
3. die Laizität
4. und die Durchgängigkeit der Stufen für jeden Einzelnen vom ersten bis zum 33. Grad

Das erste Prinzip, wie bereits gesagt, ist die Gleichheit von Mann und Frau – ist die Begegnung auf Augenhöhe, der Respekt im Umgang miteinander innerhalb der Loge, in der gesamten Organisation und draußen in der Welt. Vom Standpunkt der Organisation hat das seinen Niederschlag in der Aufgabenteilung. Männer und Frauen wechseln in den Ämtern, sie lösen einander ab, egal um welches Amt es geht, vom Großmeister des Ordens bis zum einfachsten Amt in der Loge. Man soll die Verantwortung mit gleichem Einsatz, mit gleichem Ernst tragen. Bestimmung von Inhalte des täglichen Logenlebens, Stimmung und Atmosphäre in der Loge, Art und Gestaltung der Diskussionen, dies alles ist, wenn beide Geschlechter gleichberechtigt daran arbeiten, runder und inhaltsvoller.

Schaut man die Verteilung aller freimaurerischen Organisationen an, so sind die gemischtgeschlechtlichen Gruppen sicher in Vergleich zu der rein männlichen Freimaurerei in der Minderzahl, doch dieses Verhältnis ändert sich allmählich. Als bestes Beispiel dafür kann z.B. die einst rein männliche Organisation des Grand Orient de France erwähnt werden. Sie nehmen seit einigen Jahren nicht nur Männer, sondern auch Frauen in ihre Reihen auf und dies freilich weltweit.

Aus Le Droit Humain sind verschiedene andere freimaurerische Gruppierungen hervorgegangen, die ebenfalls, wie wir, Männer und Frauen in ihren Logen einweihen. Unter anderem ist das die Großloge Humanitas, die ihre Zentrale hier in Deutschland hat. In Österreich gibt es mit uns, dem DH, zusammen fünf sogenannte liberale Freimaurerorganisationen, die miteinander freundschaftliche Kontakte pflegen, ihre Arbeiten gegenseitig besuchen und einmal im Jahr eine gemeinsame rituelle Arbeit veranstalten. Es sind die Großloge Humanitas Austria, die Liberale Großloge von Österreich, der Grossorient von Österreich und der Universale Freimaurerorden Hermetica.

Es bereitet keine Probleme, dass wir fünf in so manchen philosophishen Fragen verschiedener Meinung sind und dass wir verschiedene Rituale verwenden. In abwechselnder Reihenfolge passen wir uns dem jeweiligen Gastgeber an. Die Stimmung ist bei diesen gemeinsamen Arbeiten immer erhebend und das Gefühl der Zusammengehörigkeit beflügelt uns. Da hört man immer wieder den Satz: „es gibt nur eine Freimaurerei“.

Der zweite Schwerpunkt, die Internationalität, ist ein Ausdruck dafür, dass wir eine internationale Organisation sind, welche auf allen Erdteilen in über 60 Ländern repräsentiert ist. Jeder freie Mensch von gutem Ruf kann Mitglied werden, kann eingeweiht werden unabhängig von seiner/ihrer ethnischen Herkunft, Nationalität, Hautfarbe, Glaube oder Nicht-Glaube. Wir haben international gesehen 30.000 Mitglieder.

Das Gesetzeswerk, welches unser Zusammenleben reguliert, die internationale Konstitution, repräsentiert diese Vielfalt und Einheit zugleich. Ihre Paragraphen, bis sie zum Gesetz werden, sollen allen Logen aller Kontinente zur Diskussion gestellt werden. Man stelle sich vor, die Diskussion rollt von Schweden bis Süd-Afrika, von den Vereinigten Staaten über Europa bis Australien. Erst wenn von den Logen aufwärts alle nationalen Ebenen durchgelaufen sind und ein Konsens auf lokaler Ebene hergestellt wurde, werden die Vorschläge dem Internationalen Konvent zur Abstimmung vorgelegt. Dort, nach weiterer eingehender Diskussion, wird über die Vorschläge abgestimmt. Ein – eben – internationaler Konsens muss vorherrschen, bis ein neues Gesetzt angenommen wird oder ein altes der Entwicklung der Gesellschaft angepasst werden kann. Diese Vorgehensweise ist ein Garant der Internationalität. Die Internationale Konstitution bekommt bei uns in Österreich jeder Lehrling bereits bei der Aufnahme in die Hand.

Der Begriff der Laizität bringt zum Ausdruck, dass Le Droit Humain keiner Religionsgemeinschaft unterstellt ist. Der Orden betont die Unabhängigkeit von allen religiösen Einrichtungen, Organisationen und Glaubensrichtungen. Dies bedeutet auch, dass der Glaube an eine höhere Macht oder höheren Wesen keineswegs eine Voraussetzung für die Aufnahme ist. Die Religiosität oder Nicht-Religiosität wird als die private Angelegenheit einer jeden freien Person betrachtet. Erst die geistige Freiheit eines Jeden und Jeder erlaubt die freimaurerischen Ziele zu befolgen.

Was bedeutet das für das Logenleben in der täglichen Praxis? Ob die Bibel ein Teil des Rituals ist oder eben nicht, entscheidet jede Loge für sich selbst. Als Ausdruck aller menschlichen Weisheit kann ein weisses, also nicht bedrucktes Buch verwendet werden. Jedenfalls muß die Internationale Konstitution bei den Arbeiten aufliegen.

An dieser Stelle soll unbedingt erwähnt werden, dass der Einfluss der Theosophie durch viele Jahrzehnte die Arbeiten des Droit Humain bestimmte. Diese Richtung wurde durch die Engländerin Anni Besant intensiv gefördert – im Gegensatz zu der frankophonen absolut laizistischen Einstellung. Die heutige Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass in England, in den Skandinavischen Ländern und in Island die theosophische Richtung noch heute vorherrscht.

Was Ziele unseres Ordens sind, lernen wir vom ersten bis zum 33. Grad. Womit wir beim vierten Punkt in der Aufzählung der Grundelemente des Le Droit Humain angelangt sind. Es gibt in unserem Orden keine organisatorische Trennung zwischen den symbolischen Logen und den sogenannten Hochgradlogen, wie es z.B. in der Großloge von Österreich der Fall ist. Die Möglichkeit der initiatorischen Entwicklung vom ersten bis zum 33. Grad innerhalb der Organisation steht jedem Mitglied frei. Der Orden versteht sich mit der Durchgängigkeit der 33 Grade als eine Einheit. Das Fortschreiten am initiatorischen Weg von Grad zu Grad entspricht einer persönlichen geistigen Entwicklung. Es ist der Weg zum Erwerb und Verständnis freimaurerischer Inhalte. Es ist ein Lehrgang mit aufeinander folgenden Stufen der Schulung über die Conditio Humana.

Unsere Konstitution fasst die vier aufgezählten Prinzipien sehr schön mit folgenden Worten zusammen:

Zusammengesetzt aus Freimaurerinnen und Freimaurern geschwisterlich vereint, ohne Unterschied nach sozialer, ethnischer, philosophischer oder religiöser Herkunft, wendet der Orden …eine rituelle und symbolische Arbeitsmethode an, mit deren Hilfe die Mitglieder ihren Tempel zum Fortschritt und zur Vervollkommnung der Menschheit erbauen. Getreu dem Laizitätsprinzip und dem Respekt gegenüber der absoluten geistigen Freiheit jedes Einzelnen, arbeiten die Mitglieder des Ordens an der Verwirklichung der Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit. Darüber hinaus trachten sie vor allem danach, ein größtmögliches Maß an moralischer, intellektueller und geistiger Entwicklung für alle Menschen zu erzielen, welches eine Grundbedingung für das Glück ist, das jedes Individuum in einer geschwisterlich organisierten Menschheit erreichen kann.“

Das Zitat führt uns von der Form und Struktur zu den Inhalten des Ordens. Hier ein kleiner Schnitt, um auf den Begriff des Ordens einzugehen. Der französische Name des Freimaurerordens für Männer und Frauen Le Droit Humain heisst: „Ordre Maçonnique Mixte International Le Droit Humain“. Es ist ein großer inhaltlicher Unterschied zwischen dem Deutschen Wort Orden und dem Französischen: Ordre. Das deutsche Wort ist mit kirchlichen oder kirchlich geführten Organisationen assoziiert, wo sehr wohl ein einheitlicher Glaube an ein höheres Wesen Voraussetzung ist und eine sehr steile Hierarchie vorherrscht. Es wird ein absoluter Gehorsam verlangt. Die Mitglieder sind entweder ausschließlich Männer oder ausschließlich Frauen. Das französische Wort hingegen legt Wert auf Ordnung, wie auch eins unserer Leitsätze, der besagt: „Ordo ab Chao.“ Aber „ordre“ in zusammengesetzten Begriffen erhält auch andere Inhalte, wie z.B. „par ordre alphabetique“ heißt: in alphabetischer Reihenfolge, oder d`ordre politique/économique heißt: politischer/wirtschaftlicher Art. Womit ich sagen möchte, weder unsere Struktur noch unsere Inhalte haben mit religiösen Einrichtungen etwas zu tun.

Was sind also Ziele des Le Droit Humain und wie sollen diese Ziele erreicht werden? Wir blicken auf eine bald 125 jährige Geschichte zurück. Seit dieser Zeit stehen Humanität, Toleranz und Menschenliebe im Kern unserer Bemühungen. Dies vereint uns mit allen anderen freimaurerischen Organisationen. Auch das Streben nach Selbsterkenntnis, das Zugehen auf den Anderen und die Arbeit in der Gemeinschaft sowie der Weg zur Selbstveredelung sind zentrale Aufgaben in unseren Logen. Dies sind alles allgemein gültige freimaurerische Positionen. Keineswegs nur für uns spezifische Haltungen. Die regelmäßig sich wiederholende Treffen in einer stetig aber langsam wachsenden Gemeinschaft, der freimaurerische Alltag und die gemeinsam begangenen Feste lehren uns immer wieder neue Aspekte des menschlichen Zusammenlebens zu meistern und zu verstehen, was uns vereint und was uns trennen kann. Wir lernen die Wichtigkeit des Teilens, die Wichtigkeit und die Selbstverständlichkeit der Wohltätigkeit, das Streben nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit.

Es heisst immer, die Freimaurer seien eine geheime Gesellschaft. Wo ist das freimaurerische Geheimnis in all dem von mir Erzählten versteckt? Habe ich etwas davon verraten? Sicher nicht! Denn das freimaurerische Geheimnis kann man nur erleben. Dieses Erlebnis ist das Geheimnis selbst. Ich möchte ihn aus meinem Leben nicht missen.

Um eine kompakte und zusammenfassende Antwort auf die anfangs gestellte Frage zu geben: was bedeutet für die freimaurerische Idee und für den freimaurerischen Alltag in den Logen die Obödienz Le Droit Humain, möchte ich abschließend Folgendes sagen: Die längst fällige Gleichstellung von Männern und Frauen in den Logen bedeutet für die Idee neue Kraft und keineswegs Einbuße, größere Ausbreitung in der Welt ohne am hohen ethischen Wert etwas zu verlieren. Im Alltag der Logenarbeit bedeutet die Erweiterung der Mitgliedschaft auf beide Geschlechter eine Aufwertung des geistigen Outputs, in dem die für das männliche und das weibliche typischen Gedankenweisen sich gegenseitig ergänzen und ein neues Ganzes bilden.

Stile der Freimaurerei. Vielfalt und Einheit der Freimaurerei

Akademietagung in Berlin, Samstag, den 11. November 2017

Zum Thema

Nach einer mehr als 300-jährigen Geschichte unterscheidet sich die Freimaurerei nicht nur von Land zu Land, sogar innerhalb eines Landes werden sehr unterschiedliche freimaurerische Stile gepflegt.

Diese Vielfalt ist nicht nur für den äußeren Beobachter unübersichtlich, sie provoziert auch innerhalb der Freimaurerei Diskussionen. Diese werden dort unangenehm, wo implizit oder explizit die Überlegenheit der eigenen Tradition des jeweiligen Diskussionsteilnehmers behauptet wird. Wie viele andere kulturelle Phänomene stand auch die Freimaurei im Spannungsfeld zwischen starrer Bewahrung der Tradition und Anpassung an die jeweilige Gegenwart, ein Spannungsfeld, das viele unterschiedliche Positionen erlaubt und sehr verschiedene historische Ausprägungen der Freimaurerei ermöglicht hat, von denen einige nur noch Forschungsgegenstand der Historiker sind.

Die aktuell gelebte Vielfalt der Freimaurerei soll im Rahmen der diesjährigen Tagung der Akademie forum masonicum zur Sprache kommen. Eine Freimaurerin und zwei Freimaurer werden in Referaten über das Profil „ihrer“ Freimaurerei sprechen. Ihr langjährige Erfahrung und ihre Arbeit in verschiedenen Institutionen der Freimaurerei ermöglichen ihnen einen Blick auf die Bedeutung der Tradition in ihrer Lehrart, auf die Notwendigkeit der Entwicklung eines ausgeprägten eigenen Profils und auf die Risiken und Chancen einer Anpassung an die aktuelle Zeit.

In den Referaten soll sowohl der historische Hintergrund, die „Philosophie“, aber auch der „Alltag“ der jeweiligen Lehrart beleuchtet werden. Im Anschluss an die Referate besteht die Möglichkeit zur Diskussion.

Programm

10:00
Begrüßung durch Dieter Ney, Vorstandsvorsitzender der Akademie forum masonicum e.V.

10:30
Vortrag von Dr. Susanne Balazs (Wien)
„Le Droit Humain, eine freimaurerische Obödienz für Männer und Frauen. Was bedeutet das für die freimaurerische Idee und für den freimaurerischen Alltag in den Logen?“ (Vortragstext)

13:30
Vortrag von Rolf Keil (Frankfurt/Main)
Wir haben Ehrfurcht vor den alten Ritualen … Der Umgang mit dem Erbe der Reformloge“ (Vortragstext)

15:00
Vortrag von Eberhard Panne (Frankfurt/Main)
„Die fünf Punkte der Meisterschaft des Freimaurerordens“

Die Referenten

Dr. Susanne Balazs
ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Großrednerin des Großrates der Föderation Droit Humain Österreich, Gründungsmeisterin und langjährige MvSt der Loge Helios in Wien, MvSt der Perfektionsloge des Droit Humain in Budapest.

Rolf Keil
ist Referatsleiter Arbeitsmarktpolitik im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration, Altstuhlmeister der Loge Lessing (Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland) in Frankfurt/ Main, zugeordneter Distriktsmeister Hessen/Thüringen und Mitglied der Loge Friendship in Edinburgh (Großloge von Schottland).

Eberhard Panne
war langjähriger Logenmeister seiner Mutterloge „Wilhelm zur Unsterblichkeit“ (Große Landesloge von Deutschland) in Frankfurt/Main, Leiter des Frankfurter Meisterzirkels, der Provinzialloge Hessen und des Frankfurter Arbeitszirkels der Forschungsloge Quatuor Coronati; im Landesgroßbeamtenrat ist er zuständig für die Andreas-Seminare und seit 2006 ist er Mitglied im Ordensrat, dem höchsten Gremium der Großen Landesloge von Deutschland; Träger der Silbernen Paulskirchenmedaille der Vereinigten Großlogen von Deutschland.

Praktische Informationen
Veranstaltungsort: Logenhaus der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“, Heerstr. 28, Berlin-Charlottenburg

Flyer zur Veranstaltung

Veranstaltungsankündigung: Akademie-Tagung zum Thema „Angst“

Samstag, den 12. November 2016, wird die Akademie forum masonicum e.V. ihre diesjährige Jahrestagung im Logenhaus der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ durchführen. Das Thema der Tagung lautet „Angst. Schlüsselemotion der Gegenwart“. Der Philosoph Günter Seubold wird die kulturphilosophisch entscheidenden Etappen der Begriffsbildung vermitteln, der Sozialforscher Günther Ogris widmet sich der Angst als Emotion in der Politik und der Sicherheitsberater Peter Roell erläutert die realen politischen Bedrohungsszenarien, auf die wir gesellschaftlich-emotional mit Angst reagieren.

Weitere Information zur Veranstaltung finden Sie auf der Tagungsseite hier.

Den Flyer zu dieser Veranstaltung einschließlich des Anmeldeformulars finden Sie hier.

Angst – Schlüsselemotion der Gegenwart

Akademietagung in Berlin, Samstag, den 12. November 2016

Zum Thema

Die Angst ist ein Gefühl, das wohl so alt ist wie die Menschheit. Dennoch, das was wir heute unter Angst verstehen, hat eine erstaunlich kurze Kulturgeschichte. Glaubt man dem Kulturphilosophen Hartmut Böhme, dann sollte man ihren Beginn erst im 18. Jahrhundert ansetzen, mit dem Beginn also jener Ausprägung der Moderne, die weite Teile unserer Zeit noch prägt. Erst die Philosophen seit dieser Zeit – allen voran Søren Kierkegaard – entreißen den Begriff der Angst seiner Randständigkeit und rücken ihn gar in das Zentrum ihrer Überlegungen. Zu gleicher Zeit macht Sigmund Freud ihn zu einem Zentralbegriff seiner Psychoanalyse. An Schärfe hat der Begriff seit dieser Zeit nichts verloren, wohl aber, so scheint es, an seiner Reflektiertheit, denn er ist wohl eher in aller Munde, als dass er Gegenstand des Nachdenkens ist. In einer Gesellschaft, die der Soziologe Ulrich Beck schon vor einiger Zeit als eine solche des Risikos gekennzeichnet hat, erstaunt der inflationäre Gebrauch des Wortes in den Medien kaum, dennoch ist er in einer Weise weiter angeschwollen, wie es sich Beck 1986, dem Erscheinungs-jahr seiner „Risikogesellschaft“, wohl nicht hat vorstellen können, schien doch weltpolitisch mit dem Fall der Mauer die im Kalten Krieg begründete Angst ihren Sinn verloren und der westlich demokratisch-kapitalistische Lebensstil seinen Triumph erlangt zu haben. Doch an die Stelle der ganz großen, Angst erzeugenden Konfrontation treten in der Gegenwart andere, dezen-trale Konflikte, die zwar nicht mehr gleich die Existenz der ganzen Welt infrage stellen, dafür aber unserer Gesellschaft und gelegentlich dem Einzelnen viel näher kommen.

Die diesjährige Jahrestagung der Akademie forum masonicum e.V. will sich dem Thema der Angst über drei Perspektiven annähern. Der Philosoph Günter Seubold wird die kulturphilosophisch entscheidenden Etappen der Begriffsbildung vermitteln, der Sozialforscher Günther Ogris widmet sich der Angst als Emotion in der Politik und der Sicherheitsberater Peter Roell erläutert die realen politischen Bedrohungs-szenarien, auf die wir gesellschaftlich emotional mit Angst reagieren.

Programm

10:00
Begrüßung durch Dieter Ney, Vorstandsvorsitzender der Akademie forum masonicum e.V.

10:30
Vortrag von Professor Dr. Günter Seubold (Bonn/Alfter)
„Weiß man, wovor man sich ängstigt? Philosophisch-kulturgeschichtliche Betrachtungen“

14:30
Vortrag von Günther Ogris, M.A. (Wien)
„Sorge, Unsicherheit und Angst, Zuversicht, Hoffnung und Euphorie. Emotionen in der Politik“

16:30
Vortrag von Dr. Peter Roell (Berlin)
„Die terroristische Bedrohungslage – Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft“

Die Referenten

Professor Dr. Günter Seubold
lehrt Philosophie und Kunsttheorie an der staatlich anerkannten Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter/Bonn, Autor zahlreicher Publikationen zur Philosophie Heideggers, zur Ästhetik und zur Phänomenologie.

Günther Ogris, M.A.
ist Sozialforscher, Universitätsratsvorsitzender der Sig-mund Freud Universität (Wien) und wissenschaftlicher Leiter des privaten SORA Institute for Social Science and Consulting in Wien, für das er zahlreiche österreichische und internationale Projekte in der angewandten Sozialforschung und Politikberatung durchgeführt hat.

Dr. Peter Roell
ist Sinologe, Politikwissenschaftler und seit 2006 Präsi-dent des Instituts für Strategie-, Politik-, Sicherheits- und Wirtschaftsberatung (ISPSW) in Berlin. Zuvor war er Senior Advisor für Außen- und Sicherheitspolitik an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU in Brüssel. In Deutschland leitete Dr. Roell das Referat Asien-Pazifik, Lateinamerika und Afrika (Subsahara) und war an deutschen Botschaften im Nahen und Mittleren Osten sowie in Asien tätig. Er ist Ancien des NATO Defense College in Rom und der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) in Berlin.

Praktische Informationen
Veranstaltungsort: Logenhaus der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“, Heerstr. 28, Berlin-Charlottenburg

Flyer zur Veranstaltung

Thomas Mohrs: Hedonismus leben heißt – verzichten

Beitrag zu:
Das eigentliche Erbeben des Ich (2014). Jahrestagung der Akademie forum masonicum e.V. in Berlin, Samstag, den 8. November 2014 in Zusammenarbeit mit der Loge Zu den drei Seraphim

Vorbemerkung: Was bedeutet „Gastrosophie“?

Der Begriff „Gastrosophie“ ist gar nicht einmal wirklich „jung“, seine Bedeutung aber sicher nicht allgemein bekannt: Er setzt sich zusammen aus den Begriffen gastēr (griechisch für Magen) und sophia (griechisch für Weisheit). Als Übersetzung für den Begriff „Gastrosophie“ hat sich Lehre von der Weisheit des Essens etabliert. Der Masterstudiengang „Gastrosophische Wissenschaften“ an der Universität Salzburg[ref]Siehe http://www.gastrosophie.at/de/unilehrgang/index.asp[/ref] widmet sich dem Thema Essen multidisziplinär, interdisziplinär, transdisziplinär, also mit ganz vielen Zugängen, womit man versucht, der Komplexität der Thematik gerecht zu werden. Denn wenn man nur ein wenig über das Essen nachdenkt, kommt man schnell darauf, wie viele Bezüge dieses Alltagsphänomen hat, und zwar weit über den Zweck der erforderlichen Nahrungsaufnahme hinaus.

Und was bedeutet „Hedonismus“?

Doch dazu später mehr; einsteigen möchte ich mit dem Begriff „Hedonismus“. Dieser lässt sich wiederum zurückführen auf den griechischen Begriff hedonē für „Lust“. Entsprechend bekommt der Begriff „Hedonismus“ die Bedeutung von „Philosophie der Lust“.

Wenn wir nun den Begriff „Hedonismus“ hören, dann verbinden wir wahrscheinlich damit spontan beispielsweise etwas wie das Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, wo alles im Überfluss vorhanden ist, wo niemand arbeiten muss, wo man nur dem dolce vita frönen kann.

Oder wir verbinden mit dem Begriff „Hedonismus“ andere lust-volle Vorstellungen: eine zünftige Orgie etwa, spätrömische Dekadenz (ein Thema, das man natürlich ebenfalls kritisch diskutieren könnte); die Herrschaften im alten Athen und in Rom haben es durchaus bereits „krachen“ lassen. Platon und Aristoteles haben sich jedenfalls bitterlich darüber beschwert, dass die (adlige) Jugend in Athen jeden Abend ein Symposion, also ein Gelage, veranstaltet hat. Denn dahinter verbarg sich faktisch ein Kampftrinken der Beteiligten, gewissermaßen ein antikes „Koma-Saufen“: Wenn einer seinen Becher gelehrt hatte, mussten alle anderen nachziehen. Religiös verbrämt war diese Praxis durch die These, dass man durch das Trinken in einen dionysischen Zustand gelangt und darin in Kontakt mit der Gottheit kommen kann.

Einer solchen Veranstaltung verdanken wir einen der vielleicht schönsten Texte der Philosophiegeschichte, das „Symposion“ (Gastmahl) von Platon. Darin treffen sich die Jünglinge wie gehabt zum Trinkgelage, aber einer der Anwesenden sagt (sinngemäß): „Mir ist noch so schlecht von gestern, können wir das heute etwas anders machen?“ Der nächste bestätigt: „Mir brummt auch noch der Schädel von gestern, also heute bitte kein Kampftrinken, sondern jeder soll nur so viel trinken, wie er will und verträgt.“ Was aber – stellt sich die Frage – soll man nun anstatt des systematischen Betrinkens machen? Man entscheidet sich für das Philosophieren. Und dann beginnt das Gespräch mit Sokrates über das wahre Wesen der Schönheit, das uns als weltbekannter Text der Philosophiegeschichte überliefert ist.

Wir (zumindest die männlichen Leser) verbinden mit dem Begriff „Hedonismus“ womöglich auch die Lust im Sinne der Aphrodite, also die weibliche Schönheit und ihre sexuelle Attraktivität. Und Leserinnen denken an Adonis als dem männlichen Pendant zur Schönheit der Aphrodite.

Man verbindet mit dem Begriff des Hedonismus vielleicht das Kamasutra oder das Tantra, vielleicht auch die Erinnerung an Höhepunkte der Filmgeschichte wie die berühmte Orgasmusszene in „Harry und Sally“ oder „einschlägige“ Szenen aus einem anderen berühmten Film: „Das große Fressen“ – Hedonismus in Reinstform bzw. in existenzialistischer Übersteigerung.

Die meisten von uns verbinden „Hedonismus“ allenfalls noch mit Bildern von köstlich gedeckten Tafeln oder idyllisch angelegten Wellness-Oasen, aber ich bin mir sicher, dass die meisten den Hedonismus nicht mit dem Bild eines abgemagerten Asketen verbinden, bzw. generell und definitiv nicht mit Enthaltsamkeit, Askese und Verzicht. Weshalb sich natürlich im Hinblick auf meinen Beitragstitel die Frage stellt: „Hedonismus leben heißt – verzichten“ – ist das nicht ein performativer Selbstwiderspruch? Ein hölzernes Eisen, ein schwarzer Schimmel?

Philosophiegeschichtlicher Exkurs: Positionen des Hedonismus

Dieser Frage möchte ich im Folgenden etwas nachgehen. Zunächst möchte ich aber einen kleinen Exkurs in die Philosophiegeschichte machen und einige „Perlen“ vorstellen: Einige Philosophen und ihre Vorstellungen von der hedone und ihrer Bedeutung für die Philosophie und für das menschliche Leben.[ref]Zu den folgenden Angaben siehe: Marcuse, Ludwig: Philosophie des Glücks: Von Hiob bis Freud, Zürich (Diogenes) 1972.[/ref]

Ich fange an mit Aristippos von Kyrene, der das Lust-Prinzip in seiner Philosophie folgendermaßen (sinngemäß) auf den Punkt gebracht hat: „Das höchste Gut ist die Lust. Und zwar jetzt und hier! Die Lust des Augenblicks, kein Aufschub, kein Vertagen! Jede Lust, die du leben kannst, die sich dir anbietet – greif zu, genieße sie!“

Und so ist der Sinn des Lebens für Aristipp die Summe bzw. die Bilanz der lustvollen Augenblicke, die man im Leben angesammelt hat. Er hat auch weitere interessante Thesen vertreten wie etwa die: „Besser das Geld geht durch mich zugrunde als umgekehrt“. Er war aber keiner, der von der Lust getrieben war, sondern er verstand es in diesem Sinne: „Ich besitze die Lust, ohne von ihr besessen zu werden“. Das ist ein feiner Unterschied.

Ein weiterer berühmter (und berüchtigter) Hedonist war Jahrhunderte später der Marquis de Sade, der mit einigen Schriften Furore gemacht resp. Skandale verursacht hat. So taucht z. B. in seinem Werk zu den ungleichen Schwestern Justine und Juliette dieser Satz auf: „Laster ergötzt, die Tugend aber erschöpft.“ Das Laster zu genießen war – neben dem Protest gegen die verklemmten Sitten seiner Zeit und der harschen Kirchenkritik – der Inbegriff seiner Schriften, wobei es in den pornografischen Passagen nicht selten brutal und grausam zugeht – „sadistisch“ eben. Was er sich konkret darunter vorstellte, kommt u.a. in folgendem Zitat zum Ausdruck: „Ich stelle mir die Stadtmauer von Paris vor als Wall kopulierender Leiber.“

Andere sahen das freilich bereits in der Antike anders, standen der Lust deutlich kritischer gegenüber. Aristoteles als ein Repräsentant dieser zumindest nicht sehr lustfreundlichen Philosophie hat in seiner Nikomachischen Ethik[ref]Aristoteles: Nikomachische Ethik, 5te Auflage, München (dtv) 1972.[/ref] folgende Position vertreten: Der lustbetonte Lebensstil des bios apolaustikos ist tierisch, triebhaft, des Menschen unwürdig. Des Menschen würdig ist dagegen ein anderes Leben, ein Leben gemäß der Vernunft, das sich der Seele widmet, die im Gegensatz zum vergänglichen Körper unsterblich ist. Aber dieses Leben gemäß der Vernunft kann nur dann wahrhaft gelingen und zur „eudaimonia“, der „Glückseligkeit“ führen, wenn es ein tugendhaftes Leben ist. Aber weil er sieht, dass ein lustloses Leben auch kein wirklich glückliches Leben sein kann, kommt Aristoteles im Hinblick auf die Lust zu dem Ergebnis: „Glückselig ist, wer mit äußeren Gütern mäßig bedacht maßvoll gelebt hat.“[ref]Ebd., S. 301 (1179a10).[/ref]

Die aristotelische Ethik ist überhaupt wesentlich gekennzeichnet durch das Maß bzw. durch das berühmte „mesotes“-Schema, nach dem die Tugend das „mittlere“ Verhalten zwischen zwei Extremen ist – so ist z. B. die Tugend der Tapferkeit als Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit definiert. Aber das ist nicht so zu verstehen, dass die Tugend immer exakt in der arithmetischen Mitte zwischen den Extrempolen liegen muss. Ganz im Gegenteil liegt nach Aristoteles die Tapferkeit generell eher näher bei der Tollkühnheit als bei der Feigheit, aber es kann eben auch Situationen geben, in denen es auch ethisch angemessener ist, sich feige zu verhalten. Daher ist die aristotelische Tugend hochgradig individualistisch, denn im Grunde muss jede und jeder in einer ethisch relevanten Situation seine Verstandestugenden (wie Klugheit, Vernunft oder Weisheit) betätigen und für sich bestimmen, wo die tugendhafte „Mitte“ jeweils liegt.

Schauen wir uns nun eine der wichtigsten Figuren der Geschichte des Hedonismus an: Epikur. Was für ihn Lust bedeutet bzw. welchen Stellenwert sie in seiner Philosophie hatte, wird aus diesem Zitat deutlich:

„Ich wüsste nicht, was ich mir überhaupt als Gut vorstellen kann, wenn ich mir die Lust am Essen und Trinken wegdenke, wenn ich die Liebesgenüsse verabschiede und wenn ich nicht mehr meine Freude habe soll an dem Anhören von Musik und dem Anschauen schöner Kunstgestalten.“ [ref]Epikur, zitiert nach Lemke, Harald: Epikurs Gemüsegarten und seine philosophischen Früchte, in: Epikur – Journal für Gastrosophie, 01/2010, unter: http://www.epikur-journal.at/de/ausgabe/detail.asp?id=84&art=Artikel&tit=Epikurs%2520Gemuesegarten%2520und%2520seine%2520philosophischen%2520Fruechte[/ref]

Auch hier steht die sinnliche Lust im Zentrum der Philosophie. Und insbesondere gilt dies für die Lust des Essens:

„Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens; selbst Weisheit und alles, was noch über sie hinausgeht, steht in Beziehung zu ihr.“

Kern der hedonistischen Philosophie Epikurs ist das Essen. Epikur ist sicherlich einer der am meisten denunzierten Philosophen der gesamten Philosophiegeschichte. Ihm wurde vor allem aus der geistlichen Ecke u.a. vorgeworfen, dass er sich dreimal am Tag so vollgefressen habe, dass er sich übergeben musste, nur damit er sich wieder vollfressen konnte. Das folgende Zitat verdeutlicht aber, dass das wohl so nicht richtig gewesen ist:

„Wenn ich nun erkläre, dass die hedone das Ziel des Lebens ist, dann meine ich damit nicht die Lüste der Schlemmer noch die Lüste, die im Genießen selbst liegen, […] Denn nicht häufige Trinkgelage und festlichen Schmausen, […] noch der Genuß von leckeren Fischen und was sonst eine üppige Tafel bietet, schafft ein lustvolles Leben.“

Denn, so Epikur, das Ausleben der sinnlichen Lust hat häufig einen negativen, durch Leiden bestimmten Nachklang – der Kater nach dem Rausch hat viele Gestalten. Epikur hat zwar die Lust befürwortet, aber immer mit Bedacht. Daher ist das Vermeidung der Unlust für ihn sogar wichtiger als das Leben der Lust, zumindest als das übermäßige Leben der Lust. Und in einem weiteren Zitat kommt zum Ausdruck, welche Tugend für ihn die höchste ist:

„Willst Du einen Menschen glücklich machen, so vermehre nicht seine Habe, sondern verringere seine Bedürfnisse.“

Für Epikur spielt also – neben der Freundschaft – die Tugend der Genügsamkeit eine sehr große, wesentliche Rolle, wenn es darum geht, ein gutes, zufriedenes, glückliches Leben zu führen.

Schauen wir uns im Rahmen unserer „Perlensuche“ noch den englischen Philosophen und Wirtschaftstheoretiker John Stuart Mill an, einen der wichtigsten Vertreter der Philosophie des Utilitarismus, also des Nutzens (lat. „utilitas“). Gut ist demnach das, was in der Summe nützlich ist, was den meisten Menschen einen Nutzen, eine Luststeigerung bzw. eine Unlustreduktion bringt. Maßstab des ethisch Guten ist der „größtmögliche Nutzen der größtmöglichen Zahl“.[ref]Mill, John Stuart: Der Utilitarismus, Stuttgart (Reclam) 1976, 21.[/ref]

Aber Lust ist nicht gleich Lust. Es gibt die niederen, eher tierhaften, instinktgetriebenen Lüste und die höheren Lüste, etwa eine Oper zu hören, sich ein naturwissenschaftliches Werk zu vertiefen oder ein philosophisches Buch zu lesen. Mill entwickelt also – durchaus ähnlich wie Aristoteles – einen qualitativen Hedonismus, der auf eine Formel gebracht sagt: „Besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedenes Schwein.“[ref]Ebd., 18.[/ref] Was jedoch die „niederen“ und die „höheren“ Lüste sind, können nach Mill diejenigen entscheiden, die beide Lust-Kategorien kennen und daher zu einer Beurteilung in der Lage sind – was im Zweifel natürlich nur gebildete Menschen wie er selbst sein konnten.

Als Repräsentant des Zentrums für Gastrosophie möchte ich schließlich kurz auf eine weitere Schrift eingehen: Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel[ref]Vaerst, Eugen v.: Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel, Leipzig 1851, Neuausgabe München (Rogner und Bernhard) 1979.[/ref]von Eugen Baron v. Vaerst, erschienen 1851. In der Einleitung zu diesem ansonsten eher unbedeutenden gastrosophischen Werk unterscheidet van Vaerst den Gourmand – den Vielfraß, der die reine Idoladrie, die wahllose Lust des vollen Bauches liebt – vom Gourmet, der immer nur das Feinste und Teuerste haben will. Und von diesem unterscheidet er wiederum den Gastrosoph, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er beim Essen das Beste wählt, allerdings unter Berücksichtigung der Gesundheit und der Sittlichkeit.

Die Begriffe der Gesundheit und Sittlichkeit weisen aber für uns heute auf einen weiteren Begriff hin: den der Ethik.

Die ethische Dimension der „Gastrosophie“, durchdekliniert am Thema „Fleisch“

Die Gastrosophie ist gemäß der Definition die Lehre von der Weisheit des Essens mit ethischen Bezügen und Hintergründen. Genau deshalb stellt sich aus gastrosophischer Sicht die Frage: Gibt es Nahrungsmittel, auf die zu verzichten gastrosophisch geboten ist? Oder anders formuliert: Gibt es so etwas wie sinnvolle gastrosophisch-hedonistische Askese? Einerseits ist man als Gastrosoph unzweifelhaft – wie es Plutarch für sich geltend gemacht hat – Epicuri de grege porcus, ein „Schweinchen aus der Herde des Epikur“, weshalb ich gerne bekenne, ebenfalls ein solches „Schweinchen“ zu sein, nämlich ein Genussmensch. Die Frage nach der hedonistischen Askese halte ich aber gleichwohl nicht für unsinnig, weshalb ich sie an einem konkreten Beispiel durchdeklinieren möchte, und das ist das Beispiel „Fleisch“. Ich bin kein Peta-Aktivist, auch nicht Mitglied bei „Vier Pfoten“ oder bei einem anderen Tierschutzverein. Ich verstehe mich nicht einmal als besonders großen Tierliebhaber. Es geht mir, wenn ich über Fleisch rede, primär um einen bestimmten Aspekt, nämlich den der industriellen Tierhaltung und Fleisch„produktion“.

Ich möchte aber dennoch ganz kurz auf die philosophische Grundsatzfrage eingehen: Dürfen wir Tiere essen? Jeder gastrosophisch oder auch jeder humanistisch eingestellte Mensch sollte sich wohl diese bzw. dieser Frage irgendwann mal stellen. Weil ich für niemand anderen diese Antwort geben, sie anderen nicht vorschreiben oder aufzwingen kann, gebe ich sie für mich (natürlich in der Hoffnung, dass sie auch für andere nachvollziehbar sein mag). Und für mich lautet die Antwort auf diese Grundsatzfrage: Ich weiß es nicht. Ich grübele schon seit etlichen Jahren darüber nach, aber ich komme zu keinem klaren Ergebnis, außer zu dem, dass die Antwort wohl stets eine Frage der Perspektive, des Welthintergrundes ist. Eine absolute, verallgemeinerbare Antwort auf diese Frage scheint (!) mir nicht möglich. Aus atheistisch-existentialistischer Sicht, wie ich sie vertrete, gibt es definitiv kein „Recht“ dazu, Tiere zu töten und zu essen, denn wer sollte dieses Recht gestiftet haben, was sollte sein Ursprung sein? Dummerweise gibt es aber ebenso definitiv auch kein Unrecht. Ich glaube, diese Kategorien von „Recht“ und „Unrecht“ greifen auf dieser Ebene nicht, jedenfalls nicht in einem philosophischen Kontext, der ohne Recht setzende Gottheiten oder sonstige naturgegebene Rechte auskommt. Was es gibt, ist die reine Faktizität. Wir tun es – das Töten und Essen von Tieren – und wir tun es seit Menschengedenken (was natürlich als Begründung eines „Rechts“ ebenfalls nicht hinreichend ist, das wäre ein reichlich banaler naturalistischer Kurzschluss). Ich glaube aber dennoch, dass es eine Reihe von guten „diesseits“-Argumente[ref]Vgl. Mohrs, Thomas: Fleischeslast oder Fleischeslust, in: diesseits, 25. Jg, 4/2011, S. 9-12.[/ref] gibt, also diesseits von allen metaphysischen Bezügen, die gegen den bewusst-losen und unmäßigen Fleischkonsum sprechen.

An dieser Stelle mache ich nur einen tierethischen Gesichtspunkt geltend (echte Tierethiker/innen könnten zahllose ergänzen): Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass über 90% des in Deutschland und auch in Österreich gehandelten Fleisches aus industrieller Produktion stammt. Und artgerechte Massentierhaltung gibt es nicht. Man muss aber nicht mal ein großer Tierfreund sein, um einzusehen, dass Tiere keine Industrierohlinge sind. Es sind lebendige Wessen. Leidfähige, schmerzempfindliche Lebewesen mit artspezifischen Bedürfnissen. Und industrielle Tierhaltung und Fleisch„produktion“ halte ich für organisierte und (in aller Regel) himmelschreiende Tierquälerei. Eine Kennzahl dazu: 270.000 Hühner/Hähnchen werden im größten „Wiesenhof“-Schlachthof in Deutschland geschlachtet, und zwar pro Tag! (Geplant sind Anlagen mit über 340.000 Schlachtungen täglich.) Es handelt sich dabei um einen völlig durchindustrialisierten Prozess, anders wäre das Schlachten und Weiterverarbeiten von 270.000 Tieren an einem einzigen Tag in einer einzigen Anlage auch gar nicht möglich.

Diese Tiere mussten natürlich auch fressen, sie mussten bis zur „Schlachtreife“ gemästet werden. Der Münchener Agrarwissenschaftler Josef Reichholf schreibt in einem seiner Bücher („Der Tanz um das goldene Kalb“[ref]Reichholf, Josef: Der Tanz um das goldene Kalb: Der Ökokolonialismus Europas, Berlin (Wagenbach) 2006.[/ref]): „Wenn die Deutschland gemästeten Tiere von den in Deutschland produzierten Futtermitteln ernährt werden müssten, müsste Deutschland viermal so groß sein wie es ist.“ Ist es aber nicht. Also stellt sich die Frage, wo die Futtermittel her kommen. 90 Prozent des in Deutschland verfütterten Sojas stammen z. B. von riesigen Monokulturen in Südamerika, das meiste davon aus Brasilien. Ich möchte einmal andeuten, welche Dimensionen solche Monokulturen in Brasilien haben. Auf einem Foto in einem brasilianischen Landwirtschaftsmagazin sieht man 31 riesige Mähdrescher, die nebeneinander in einer keilförmigen Formation ein Feld durchpflügen. Der Titel des Beitrages lautete: „Die Zivilisation des Feldes“. Wie diese Felder „zivilisiert“ wurden, wissen wir alle eigentlich, nämlich durch Brandrodungen in riesigem Maßstab. Zwischen 1988 und 2011 wurden im brasilianischen Amazonasgebiet ca. 400.000 Quadratkilometer Regenwald gerodet.[ref]Siehe https://www.google.at/search?q=Rodungen+Regenwald+brasilien+statistik&tbm=ischimgil=JbAFTlCfZ3gWGM%253A%253BXbpPd0KWqSL4eM%253Bhttp%25253A%25252F%25252Famazonasportal.de%25252Fnachrichten%25252Fbrasilien%25252Fbrasilien-bescheinigt-amazonas-niedrigste-abholzungsrate-in-24-jahren-2367%25252F&source=iu&pf=m&fir=JbAFTlCfZ3gWGM%253A%252CXbpPd0KWqSL4eM%252C_&usg=__cm2FJ9q2ADQIBAppMYp1j9sMiaU%3D&biw=1093&bih=452 .[/ref] Das ist in etwa die Fläche von Frankreich, Portugal und Spanien zusammengenommen. Bei diesen gigantischen Brandrodungen wurden/werden natürlich sehr große Mengen CO2 freigesetzt. Zu bedenken sind dabei auch die enormen Biodiversitätsverluste, zumal im Regenwald eine besonders hohe Biodiversitätsdichte in vielen kleinen Ökosystemen zu finden ist (bzw. war).

Brasilien ist einer der größten Soja-Exporteure und einer der größten Rindfleisch-Exporteure der Welt. Gleichzeitig hungern in Brasilien über 13 Millionen Menschen.[ref]Siehe http://de.wfp.org/artikel/brasilien-ein-champion-im-kampf-gegen-hunger .[/ref] Und das sind nur die Schätzungen/Berechnungen der Regierung, die Opposition geht von dem Doppelten aus. Gleichzeitig hat sich seit 1970 die Wildtierpopulation weltweit halbiert, berichtet der WWF („Life Planet Report“[ref]Siehe http://derstandard.at/2000006215563/52-Prozent-Artenverlust-in-nur-40-Jahren .[/ref]). Auch die Weltressourcen werden rascher verbraucht als sie erneuert werden können – der „Earth Overshoot Day“[ref]Siehe http://www.footprintnetwork.org/de/index.php/GFN/page/earth_overshoot_day/ .[/ref], also der Tag, an dem wir die Ressourcen verbraucht haben, die eigentlich für ein ganzes Jahr zur Verfügung stehen, war 2014 bereits am 19. August erreicht. Im ersten Berechnungsjahr, 1987, war es noch der 19. Dezember gewesen.

Exkurs: Verdient der Mensch die Bezeichnung „homo sapiens“?

An dieser Stelle möchte ich eine etwas provokante Frage einschieben. Darf der Mensch dann noch als homo sapiens gelten? Michael Schmidt-Salomon schlägt in seinem Buch „Keine Macht den Doofen“[ref]Schmidt-Salomon, Michael: Keine Macht den Doofen! Eine Streitschrift, München (Piper) 2012.[/ref] vor, die Gattungsbezeichnung des Menschen homo sapiens zu ersetzen durch homo demens. Wenn man sich die Weltsojaproduktion von 1997 bis heute ansieht, dann stellt man fest, dass sie um das 17-fache gesteigert wurde. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um gv-Soja, also genmanipuliertes Soja, dank dessen die Erträge massiv gesteigert werden konnten. Wohin geht aber die Produktion? Sie dient nicht der wachsenden Weltbevölkerung, jedenfalls nicht primär, sondern mindestens 50 Prozent (der Weltagrarbericht[ref]Siehe www.weltagrarbericht.de .[/ref] geht von eher 70 Prozent aus), gehen in die weltweite Tiermast.[ref]Siehe https://www.abenteuer-regenwald.de/bedrohungen/fleisch .[/ref] Die weltweite Fleischproduktion hat sich seit 1960 bis heute ungefähr verfünffacht.[ref]Siehe http://www.google.at/imgres?imgurl=http://www.vegetarismus.ch/heft/98-3/images/weltweit.gif&imgrefurl=http://www.vegetarismus.ch/heft/98-3/zahlen.htm&h=324&w=364&tbnid=Ji8dFl3TCkltoM:&zoom=1&docid=PQc75EsSDZFBYM&ei=e828VNGNApL9aPmKgOAE&tbm=isch&ved=0CCoQMygLMAs[/ref] Die Food and Agricultural Organisation der Vereinten Nationen geht davon, dass sich der Weltfleischbedarf bis 2050 noch einmal auf über 500 Millionen Tonnen verdoppeln wird.[ref]Siehe http://www.fao.org/ag/againfo/themes/en/meat/home.html .[/ref] Was das für den Futtermittelbedarf und dessen Anbau bedeutet, dürfte klar sein. Konkretisiert an einem Beispiel: 2010 wurden nach FAO-Schätzung weltweit ca. 30 Milliarden Masthähnchen gemästet und geschlachtet, damals bei maximal 35 Tages Aufzucht. (Durch Futteroptimierung und spezielle Züchtungen liegt die Aufzuchtzeit mittlerweile in den „Turbo“-Mastanlagen bei 28-29 Tagen von Schlüpfen bist zur „Schlachtreife“.) Dies entspricht einer Menge von ca. 60 Milliarden Kilo Getreide, denn für die Produktion von einem Kilo Hähnchenfleisch benötigt man ca. 2 Kilo Getreide, beim Schwein sind es – je nach Züchtung – zwischen 3 und 5 Kilo, bei Rind zwischen 7 und 14 Kilo.[ref]Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Tierproduktion#Bedeutung_f.C3.BCr_die_Weltern.C3.A4hrung .[/ref] So plakativ dieser Satz auch sein mag, er hat seine Berechtigung: „Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen.“  [ref]Siehe http://www.google.at/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0CCEQFjAA&url=http%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fspiegel%2Fprint%2Fd-13527742.html&ei=FNG8VMCfO8WqUbKpgkA&usg=AFQjCNHhJIVW0kT56-NgJxCAWvBI4C4EkA&sig2=onRG0iNmkrNLPR4hDgH95g&bvm=bv.83829542,d.d24[/ref] Und das gilt auch für den nicht unumstrittenen Jean Ziegler, wenn er argumentiert: In einer Welt, in der die Weltlandwirtschaft Nahrungsmittel in einer Größenordnung produziert, dass eigentlich ca. 12 Milliarden Menschen ernährt werden könnten, dass aber in einer solchen Welt aber 800 Millionen Menschen hungern müssen, ist ein Skandal. Und Ziegler bringt dies – aus formaljuristischer Sicht sicher überspitzt – auf den Punkt: „Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“[ref]Siehe http://www.google.at/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=3&cad=rja&uact=8&ved=0CC0QtwIwAg&url=http%3A%2F%2Fwww.youtube.com%2Fwatch%3Fv%3DvKd5yGzQhzE&ei=ZNG8VM2BL4byUN6Ug9gB&usg=AFQjCNH9NZg73duQ4MqOZRtS8sRnsd2ESg&sig2=kfzgfpRlf5bz7gk3uLrt1Q&bvm=bv.83829542,d.d24[/ref] Für diesen Tod gibt es keine objektive Notwendigkeit, keine „Fatalität“, wie Ziegler es nennt.

Die (industrielle) Viehzucht verursacht nachweislich mindestens 18 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen.[ref]Die Angaben schwanken zwischen 18 % (FAO) bis zu 51 % (WWI). Siehe http://reset.org/blog/fleisch-und-klima-wie-wird-unsere-umwelt-von-der-viehzucht-beeinflusst .[/ref] Das ist mehr als die Emissionen des gesamten weltweiten Verkehrs.

Konkretisiert am Beispiel Methan: Dieses im Hinblick auf die Klima-Problematik hochwirksame Gas wird von Wiederkäuern (also vornehmlich Rindern) bei der Verdauung produziert und „gerülpst“. Aber zum einen würden Rinder das in geringerem Maße tun, würden sie sich artgerecht auf der Weide von Gras und Kräutern ernähren; sie wären dann sogar in der Ökobilanz positiv. Anita Idel hat insofern völlig recht: „Die Kuh ist kein Klimakiller“.[ref]Idel, Anita: Die Kuh ist kein Klimakiller. Wie die Agrarindustrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun können, Marburg (Metropolis) 2010.[/ref] Aber die artfremde Ernährung von Paarhufern in der industriellen Massenproduktion mit Soja führt eben zu dieser erhöhten Methanemission. (Wobei, am Rande bemerkt, in Sachen „Klima“ ein noch weit größeres Problem das Lachgas ist, das beim Ausbringen von Kunstdünger auf die Getreide-Monokulturen freigesetzt wird – Getreide freilich, das dann zu mehr als einem Drittel an „Nutztiere“ verfüttert wird.)

Ein weiteres gravierendes Problem: Wasser! Weltweit verbraucht die Viehzucht enorme Mengen des uns zur Verfügung stehenden Trinkwassers, je nach Quelle zwischen 8 und 10 Prozent.[ref]Zur FAO-Schätzung siehe: ftp://ftp.fao.org/docrep/fao/010/a0701e/a0701e.pdf , S. 167 f.[/ref] Der „Fleischatlas“ 2014[ref]Siehe http://www.boell.de/sites/default/files/fleischatlas2014_kommentierbar_1.pdf#page=19 .[/ref] geht von ca. 60 Milliarden (also 60.000.000.000) Schlachttieren weltweit aus, die alle trinken müssen, für die Futtermittel produziert werden müssen, die Raum brauchen, die verdauen. Dazu noch ein paar Daten: Für die Produktion von einem Kilo Hühnerfleisch bedarf es ca. 3900 Liter Wasser, für ein Kilo Schweinefleisch ca. 4800 Liter und für ein Kilo Rindfleisch ca. 15500 Liter Wasser.[ref]Siehe http://virtuelles-wasser.de/fleisch.html .[/ref] Dies wiederum vor dem Hintergrund, dass über eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben und verschmutztes Trinkwasser heute bereits die Krankheitsursache Nummer Eins weltweit ist.

Wo wir beim Thema Wasser sind: In der Süddeutschen Zeitung vom 12.4.2014 wird im Artikel „Es stinkt zum Himmel“[ref]Siehe http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/belastetes-trinkwasser-in-deutschland-es-stinkt-zum-himmel-1.1935790 .[/ref] ein Überblick darüber gegeben, wo die Grund- und Trinkwasserqualität in Deutschland aufgrund der hohen Nitratbelastung am schlechtesten ist. Das ist genau in jenen Regionen der Fall, wo sich die großen Tierfabriken ballen.

Ein weiterer Aspekt, der mit der industriellen Tierhaltung zusammenhängt, ist das sogenannte „Land Grabbing“[ref]Siehe http://www.fairtrade.at/fileadmin/user_upload/PDFs/04_Suedwind_Studie_LandGrabbing_Fairtrade.pdf .[/ref]: Länder wie China, aber auch private Investoren kaufen oder pachten im großen Stil Agrarnutzungsflächen (vornehmlich) in Afrika, um dort wiederum Soja und Mais anzubauen für die Tiermast in China, wo der Fleischbedarf am schnellsten steigt. Nur ca. 36 Prozent der Landfläche der Welt sind agrarisch nutzbar[ref]Siehe http://www.factfish.com/de/statistik/landwirtschaftliche%20nutzfl%C3%A4che%20der%20landfl%C3%A4che .[/ref] (d. h. nicht nur für die Landwirtschaft, sondern vor allem auch als Weidefläche) und jährlich geht von dieser eine Fläche von der Größe der Schweiz durch Überdüngung, Bodendegradation, Überweidung, Desertifikation, Versiegelung usw. verloren.[ref]Siehe http://www.desertifikation.de/fakten_degradation.html , http://de.wikipedia.org/wiki/Bodendegradation[/ref]

In einem ganz aktuellen Artikel aus „DIE WELT“[ref]Siehe http://www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article115177291/Bis-zu-70-Prozent-der-Aecker-in-China-verseucht.html .[/ref] zu China: Bis zu 70 Prozent der Böden sind dort eigentlich ruiniert aufgrund von Pestizidbelastungen, d. h. man muss die Nahrungsmittel irgendwo anders anbauen oder als Importware einkaufen. Dambisa Moyo, eine aus Sambia stammende Ökonomin, Harvard-Professorin, die bei Goldman-Sachs und der Weltbank gearbeitet und seit einigen Jahren als Publizistin tätig ist, wurde mit ihrem Erstlingswerk „Dead Aid – Entwicklungshilfe tötet“ bekannt. In ihrem zweiten Buch „Winner take all. China’s Race for Ressources and What It Means for the World“[ref]Moyo, Dambisa: Winner Take all. China’s Race for Ressources and What It Means for the World, New York (basic books), 2012.[/ref] aus dem Jahr 2012 dokumentiert sie Chinas Einkaufstour durch die Welt. Unter anderem hat China nach den Recherchen von Moyo in Peru einen ganzen Berg gekauft, über 4000 Meter hoch, weil dort eines der größten Kupfervorkommen der Welt vermutet wird. Und mit dem Kauf des Berges hat sich China natürlich auch die Schürfrechte gesichert. Aber was China eben auch in großem Maßstab betreibt, ist der Ankauf bzw. die langfristige Pacht von landwirtschaftlichen Nutzflächen (insbesondere in Afrika).

Wenn aber auf der einen Seite Ressourcen wie Trinkwasser und fruchtbarer Boden knapper und knapper werden, auf der anderen Seite aber der Bedarf aufgrund der weiter wachsenden Weltbevölkerung und dem weltweit exponentiell ansteigenden Fleischkonsum steigt, dann greift eine Logik, die bereits Platon in seiner „Politeia“ argumentativ durchdekliniert hat: Es droht dann ein Krieg um die knapp werdenden Ressourcen Wasser, Nahrungsmittel und Ackerboden.

An dieser Stelle möchte ich auf einen Bericht hinweisen, der im Herbst 2013 erschienen ist, herausgegeben von der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), also sozusagen der Handelsbehörde der Vereinten Nationen, die sicherlich nicht im Verdacht steht, wirtschaftsfeindlich zu sein. Dieser Bericht trägt den Titel „Wake up before it is too late. Make agriculture truly sustainable now for food security in a changing climate“.[ref]Siehe http://unctad.org/en/PublicationsLibrary/ditcted2012d3_en.pdf .[/ref] In ihm werden die zentralen Botschaften des Weltagrarberichts nicht nur sehr nachdrücklich bestätigt, sondern in geradezu alarmistischer Form zugespitzt, und ich finde es durchaus bemerkenswert, wenn ein solcher Bericht mit einer derart klaren und eindeutigen Kritik am System der globalisierten Agro-Industrie von einer Handelbehörde publiziert wird.

Das Fleisch und die Gesundheit

Ich komme abschließend noch zum Stichwort „Gesundheit“. Statistisch lässt sich nachweisen, dass seit der Umstellung auf industrialisierte Nahrungsmittelproduktion die Zahl der ernährungsbedingten Zivilisationskrankheiten (resp. „Zuvielisationskrankheiten“) relativ rasant angestiegen ist: Adipositas, Diabetes melitus II, zum Teil schon bei Kindern, Allergien, Arteriosklerose, bestimmte Krebsarten usw., aber auch zerebrale Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson, Zunahme von Schlaganfällen.[ref]Siehe z. B. http://www.gesundheits-lexikon.com/Ernaehrung-Diaeten/Lebensmittelqualitaet-/Industrielle-Nahrungsmittelproduktion-und-Lebensmittelqualitaet.html .[/ref] Die wissenschaftlich harten Beweise mögen noch fehlen, dass hier ein direkter Zusammenhang besteht, aber die Indizien sprechen eindeutig dafür. Ebenfalls in Zusammenhang mit der Industrialisierung der Nahrungsproduktion steht die nicht abreißende Kette von Lebensmittelskandalen, aber auch die steigende Gefahr von Zoonosen und Pandemien. Denn Hühner und Schweine sind für ähnliche Erreger anfällig wie Menschen. Und die großen Mastanlagen sind nicht umsonst Hochsicherheitstrakte. Zum einen um zu vermeiden, dass Keime hineingelangen, die die überzüchteten und degenerierten Tiere befallen könnten, zum anderen aber auch um zu vermeiden, dass Keime hinausgelangen, die für uns Menschen gefährlich werden könnten. In diesem Zusammenhang möchte ich verweisen auf einen Bericht der Weltgesundheitsbehörde (WHO) aus dem Frühjahr 2014. Die Schlagzeile dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30.04.2014 lautete: „Das globale Antibiotika-Desaster“.[ref]Siehe http://www.faz.net/aktuell/wissen/who-bericht-das-globale-antibiotika-desaster-12917927.html .[/ref] Keime werden immer schneller resistent, und diese Resistenz entwickelt sich eben zu einem großen Teil in den Masttieranlagen, in denen z. T. prophylaktisch, z. T. mit medizinischer Indikation Antibiotika in großem Maßstab verabreicht werden. Diese Verabreichung von Antibiotika hat zudem den „angenehmen“ Nebeneffekt, dass die Tiere noch schneller Fleisch ansetzen; Antibiotika sind also Mastbeschleuniger. Und wenn dann – so der WHO-Bericht – die Gülle aus den Mastanlagen auf Äcker und Felder ausgebracht wird, gelangen auch die resistenten Keime in die Umwelt.

Fazit: Hedonistische Askese ist Gebot der praktischen gastrosophischen Vernunft

Ich komme also als „Schweinchen in der Herde Epikurs“ zu meinem Fazit: Hedonistische Askese ist zumindest im Hinblick auf Massentierhaltung und die industrielle Fleischproduktion kein Widerspruch in sich, sondern ein wohl begründetes Gebot der praktischen gastrosophischen Vernunft. Sie ist – um es mit einem anderen berühmten Philosophen, nämlich Immanuel Kant, auszudrücken – Ausdruck des Respekts vor der Würde der Menschheit in der eigenen Person. Denn die Praxis der weltweiten industriellen Fleischproduktion hängt in vielfältiger Form und vielerorts zusammen mit der Verletzung von Menschenrechten – durchaus auch in unseren Breiten, wenn man etwa an die Arbeitsbedingungen der „Gastarbeiter“ in Schlachtfabriken denkt.[ref]Siehe z. B. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/lebensmittel/arbeitsbedingungen-auf-schlachthoefen-das-billige-fleisch-hat-einen-preis-12148647.html .[/ref]

An dieser Stelle stellt sich freilich die Frage, ob sich der gastrosophische Hedonismus – eben weil er „Verzicht“ fordert – nicht unbeliebt und als Ethik damit praktisch unwirksam macht. Gegen diese rhetorische Allzweckwaffe gegen jegliche normative Ethik möchte ich mit Niko Paech, dem Hauptvertreter der Postwachstumsökonomie[ref]Paech, Niko: Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München (oekom) 2012.[/ref], eine Gegenfrage stellen: „Warum soll die Interpretationshoheit jenen überlassen bleiben, die Verzicht fortwährend als Kampfbegriff instrumentalisieren?“ Wieso wird „Verzicht“ reflexartig als etwas Negatives, etwas Schlechtes bewertet? Kann man dies nicht auch positiv sehen?

Zudem sei an dieser Stelle der Hinweis auf die häufig übersehene Normativitätsdialektik gestattet: Was legitimiert die, die meinen, dass man niemanden zum Verzicht verpflichten darf, andere zu verpflichten, darauf zu verzichten? Oder in einer anderen Version: Wer behauptet, man dürfe anderen seine Werte nicht überstülpen, stülpt anderen seine Werte über. Wer „man darf nicht“ sagt, tut genau das, was er anderen untersagt.

Schließen möchte ich mit einigen (hoffentlich mehr oder weniger provokanten) Thesen:

  • Essen ist heute keine reine Privatsache mehr, sondern immer ein statement, ein politischer Akt. Oder mit Jonathan Safran Foer: „Sobald wir unsere Gabeln heben, beziehen wir Position.“ Wir tun es faktisch, jedes „Mahl“, ob uns dies passt oder nicht. Dies ist für mich so etwas wie der Kernsatz in Foers Bestseller „Eating Animals“.
  • Aus gastrosophischer Sicht und auch aus humanistischer Sicht ist Fleisch aus Massentierhaltung kein Genuss. Oder, um dies noch zuzuspitzen: Es ist ungenießbar! Damit sind wir wieder beim Genuss gelandet und damit bei Epikur. Aus seinem berühmten Brief an Menoikeus hier noch ein sehr schönes Zitat: „Schicke mir ein Töpfchen mit Käse, damit ich, wenn ich Lust habe, prächtig speisen kann.“
  • Bewusster Verzicht im Einklang mit bewusstem verantwortlichem Genuss ist im Grunde genommen gar kein Verzicht, sondern gesteigerter Genuss.
  • Weniger ist mehr! Der Ausstieg aus der konsumistischen „Zuvielisation“ bedeutet nicht Verzicht, sondern – gerade auch im Kontext der Ernährung – Befreiung.

In diesem Sinne hoffe ich, dass wir durch besseres Essen im Mehrsinne des Wortes die Welt genussvoll verbessern können.

 

Weitere Literatur (kleine Auswahl)

Baranzke, Heike u. a. (Hg.): Leben – Töten – Essen. Anthropologische Dimensionen, Stuttgart Leipzig (Hirzel) 2000.

Bommert, Wilfried: Kein Brot für die Welt. Die Zukunft der Welternährung, München (Riemann) 2009.

Busse, Tanja: Die Ernährungsdiktatur: Warum wir nicht länger essen dürfen, was uns die Industrie auftischt, München (Karl Blessing) 2010.

Donaldson, Sue & Kymlicka, Will: Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2013.

Foer, Jonathan F.: Tier essen, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2010.

Goetschel, Antoine F.: Tiere klagen an, Frankfurt/Main (Scherz) 2012.

Grabolle, Andreas: Kein Fleischt macht glücklich. Mit gutem Gefühl essen und genießen, München (Goldmann) 2012.

Lemke, Harald: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie, Berlin (Akademie Verlag) 2007.

Lemke, Harald: Politik des Essens: Wovon die Welt von morgen lebt, Bielefeld (Transcript) 2012.

Löwenstein, Felix zu: Food Crash. Wir werden uns ökologisch ernähren oder gar nicht mehr, München (Pattloch) 2011.

Radisch, Iris & Rathgeb, Eberhard (Hg.): Wir haben es satt! Warum Tiere keine Lebensmittel sind, St. Pölten – Salzburg (Residenz) 2011.

Schlatzer, Martin: Tierproduktion und Klimawandel, 2. Aufl., Wien (LIT) 2011.

Sezgin, Hilal: Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen, München (C. H. Beck) 2014.

Voget-Kleschin, Lieske u. a. (Hg.): Nachhaltige Lebensstile. Welchen Beitrag kann ein bewusster Fleischkonsum zu mehr Naturschutz, Klimaschutz und Gesundheit leisten?,  Marburg (Metropolis) 2014.

Ziegler, Jean: Das Imperium der Schande: Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, München (Goldmann) 2008.

Ziegler, Jean: Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der Dritten Welt, München (btb) 2013.

Das eigentliche Erbeben des Ich (2014)

Akademietagung in Berlin, Samstag, den 8. November 2014
in Zusammenarbeit mit der Loge Zu den drei Seraphim

Zum Thema

Worin ein glückliches Leben besteht, darüber diskutieren die Menschen wohl seit Anbeginn menschlichen Lebens – und für die meisten von uns dürfte ausgemacht sein, dass der Genuss in einem glücklichen Leben einen prominenten Platz einnimmt. Der Genuss ist ein Erlebnis beispielloser Intensität, er ist „das eigentliche Erbeben des Ich“, wie es der Philosoph Emmanuel Levinas einmal ausdrückte. Doch das vermeintlich Evidente und Unmittelbare ist Teil einer Kulturgeschichte, die dieses Erlebnis nicht nur kommentierte (und gelegentlich moralisch bewertete), die Kulturgeschichte hat das, was wir heute unter Genießen verstehen, selbst geprägt. Die Tagung will sich beiden Aspekten widmen, dem kommentierenden und wertenden Blick auf den Genuss und den Transformationen des Begriffes vom Genuss selbst.

Auf den ersten Blick scheint der Genuss gar keiner Erklärung zu bedürfen – mit einer solchen Evidenz überflutet er das Ich, das gleichsam in ihm zu baden und sich in ihm aufzulösen scheint, ohne soziale Beziehungen. Die Studie „Die feinen Unterschiede“ des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zeigte hingegen, dass der Genuss tief verankert ist in soziale Prozesse. Geschmack ist soziales Distinktionsmerkmal: der Weinkenner distanziert sich sozial vom Biertrinker, der Opernbesucher sieht sich in einer anderen sozialen Stellung als der Besucher von Rockkonzerten, die Inszenierung des Fernsehkommissars an der Currywurst-Bude nach der Auflösung eines Falles hat eine soziale Botschaft. Der Frankfurter Soziologe Professor Dr. Christian Stegbauer hat sich in seinem Buch „Reine Geschmackssache? Eine kleine Soziologie des Genießens“ zum Ziel gesetzt, dem Leser zu vermitteln, wie sehr wir bis in unsere Geschmackswahrnehmung hinein durch unsere Umgebung geprägt sind.

Der Genuss ist lebenspraktisch immer auch bezogen auf sein Gegenteil, das Leiden. Wer sich im Übermaß dem Genuss hingibt, wird nach dem Genuss leiden. So erstaunt es nicht, dass geistesgeschichtlich beim Genuss immer auch das Thema behandelt wurde, worin das rechte Maß beim Genuss besteht. Während über weite Strecken der abendländischen Geschichte hier die Klugheit in Anschlag gebracht wurde, um die negativen Folgen des Genießens zu vermeiden, kommt spätestens mit dem französischen Surrealismus, hier an Erkenntnisse aus der Ethnologie anschließend, der Genuss in seinem existenziellen Selbstwert in den Blick, ganz ohne Rücksicht auf seine möglichen negativen Folgen. Der Philosoph Professor Dr. Thomas Mohrs, der sich u.a. am Zentrum für Gastrosophie an der Universität Salzburg engagiert, wirft einen geistesgeschichtlichen Blick auf den Begriff des Genießens, vom Hedonismus des Epikur über Ludwig Feuerbach bis zum „ersten“ Gastrosophen Eugen von Vaerst, der den Genuss von Speisen zu einer Kunstform erhebt.

Ein besonderes Verhältnis zum Genuss hat natürlich ein Koch. Engelbert Tschech, mehrfach ausgezeichneter Koch und Restaurantbesitzer in Graz, engagiert sich seit 1999 in der Slow Food Bewegung und will in seinen Vorträgen das Bewusstsein für die regionale Küche fördern. Als Praktiker ringt er ganz konkret „für die geruhsame sinnliche Lust gegen den universellen Tempowahn“.

Programm

10:00 Uhr
Begrüßung durch den Vorstandsvorsitzenden der Akademie forum masonicum Dieter Ney
Grußwort des National-Großmeisters der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ Thomas Engel
Grußwort des Stuhlmeisters der Loge „Zu den drei Seraphim“ Michael Goszdziewski

10:30 Uhr
Reine Geschmackssache. Eine kleine Soziologie des Geschmacks
Vortrag von Professor Dr. Christian Stegbauer und anschließende Diskussion

gegen 12:15 Mittagspause

14:30 Uhr
Hedonismus leben heißt – verzichten. (Vortragstext)
Vortrag von Professor Dr. Thomas Mohrs und anschließende Diskussion

16:30 Uhr
Die einfachen Dinge im Leben sind meist die besten
Vortrag von Engelbert Tschech und anschließende Diskussion

Die Referenten

Professor Dr. Christian Stegbauer
lehrt Soziologe an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main und forscht insbesondere im Bereich der sozialen Netzwerkanalyse.. 2006 erschien sein lesenswertes Buch „Geschmackssache? Eine kleine Soziologie des Genießens“ im merus-Verlag

Professor Dr. Thomas Mohrs
ist Philosoph und lehrt an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz/Österreich. Er ist Mitarbeiter am Zentrum für Gastrosophie und beschäftigt sich mit Fragen der philosophischen Anthropologie, insbesondere der angewandten Ethik der Ernährung

Engelbert Tschech
ist Koch und Besitzer des Restaurants Corti in Graz und erhielt zahlreiche Preise, insbesondere die erste Mütze des Gault Millaut für ein italienisches Restaurant in Österreich. Der Autor von Kochbüchern gründete 1999 das Slow Food Convivium Graz-Steiermark und setzt sich für die Stärkung regionaler Küche ein

Praktische Informationen

Veranstaltungsort: Logenhaus der Großen National-Mutterloge Zu den drei Weltkugeln“, Heerstr. 28, 14052 Berlin

Flyer zur Jahrestagung 2014