Akademietagung in Leipzig, Samstag, den 1. Mai 2004
(in Zusammenarbeit mit der Freimaurerloge „Minerva zu den drei Palmen“
Vorträge mit anschließender Diskussion
Dr. Franz Biet:
Ist unsere Kultur noch zu rettten?
- Zusammenfassung: Als Robinson Crusoe sich nach seinem Schiffbruch gerettet hatte, besann er sich auf die Tugenden eines guten Bürgers: Er versuchte Ordnung in das entstandene Chaos zu bringen. Dass er dabei erfolgreich war, verdankte er seinen handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten, all dem, was er einmal gelernt hatte. Wir haben dafür die Namen Bildung und Kultur. Heute ist unsere Gesellschaft in der gleichen Lage: Wir haben Schiffbruch erlitten und sollten ebenfalls Ordnung schaffen. Doch die Schwierigkeit beginnt bereits mit der Verwendung des Begriffes Kultur. Wir sprechen von Industriekultur, Streitkultur, Esskultur – das Wort „Kultur“ wird zerredet und verwässert. Der arg strapazierte Begriff wird zum modernen Musterbeispiel sprachlicher Bluffologie. Um zur Kultur als dem Inbegriff menschlicher Errungenschaften zu kommen, bedarf es eines Bildungskanons, einer wertenden Auswahl aus einem größeren Ganzen, zu dem Wissenschaften und Künste, Schulen und Theater, Museen und Bibliotheken, technische Erfindungen und Erkenntnisse der Naturwissenschaften gehören. Doch diese Kultur ist weitgehend zerfallen. Die alte Gesellschaft des bürgerlichen Zeitalters führt eine Randexistenz, richtungsweisend erscheint eine neue: die Erlebnisgesellschaft, deren Hauptaufgabe darin besteht, nach Sicherung der Daseinsvorsorge das individuelle Glück zu suchen. Diese Tendenz wird in der Neuorientierung des Schul- und Bildungssystems deutlich: Alle Fächer – etwa Sport und Sprachen – erhalten den gleichen Wert, jeder Schüler ist in seiner Wahl autonom, er selbst schätzt seine Fähigkeiten ein, bestimmt Leistungsfächer. Das einstmals Ganze wird zur Ansammlung beliebiger, für sich isoliert stehender Bereiche. Weil der alte Bildungskanon überholt erscheint, wurde das Grundprinzip jeder Ordnung von Wissensbeständen aufgegeben. Was sind uns in dieser Situation Kultur und Bildung noch wert? Was macht heute noch Sinn? Es ist nicht mehr die Pflicht, nicht mehr die Ordnungsliebe, nicht mehr die Suche nach Gemeinschaft und nicht mehr die Verantwortung. An ihre Stelle ist die Erotik des Geldes getreten. Dem gegenüber gilt es wieder das Allgemeinwissen zu fördern. Nur wer über ein gediegenes Wissen von der Welt und ihren Menschen verfügt, kann über sein Fachgebiet mit Erfolg und zu eigenem und fremdem Nutzen hinausdenken. Kultur schließt immer Bildung mit ein. Haben auch die Traditionen ihre Verbindlichkeit weitgehend verloren, so kommen wir nicht umhin, die unmittelbar erlebte Gegenwart auf eine sinnverleihende Vergangenheit und Zukunft zu beziehen. Nur wer allgemein, also natur- und geisteswissenschaftlich gebildet ist, kann seine eigene Zeit verstehen. Nur wenn wir umfassend gebildet sind, können wir an der europäischen Gemeinschaft teilhaben, die nicht nur unter ihren wirtschaftlichen Aspekten zu sehen ist. Sind wir es aber nicht, so können wir – wie Friedrich Dürrenmatt sagt – in dieser im Umsturz begriffenen Welt allesamt ein- und zusammenpacken.
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Professor Dr. Volker Schmidt-Kohl (Fachhochschule Köln):
Cogito, ergo sum – Werteorientierung im Bildungsdschungel
- Zusammenfassung: Cogito ergo sum war die berühmte Formulierung des René Descartes als Antwort auf seine Skepsis gegenüber der realen Dingwelt, der zufolge das denkende Subjekt nur sich selbst als sicheres Basisprinzip erfährt. Die davon ausgehende Aufklärung initiierte die neue Orientierung an der „raison“, die den gebildeten (wissenden) Bürger zu einem aufgeklärten Menschen stetig höher entwickeln werde. Wir wissen, dass sich diese Hoffnung auf eine Bildungsgesellschaft so nicht verwirklicht hat. Das Erbe der Aufklärung brachte unserer Gesellschaft heute nicht weniger Ängste, vielmehr – im Gegenteil – eine „zynische Vernunft“ (Peter Sloterdijk). Was ist Bildung überhaupt? Wir können Bildung als die Form verstehen, in der wir Kultur betreiben. Sie hat stets einen individuellen und zugleich öffentlichen Charakter. Beide Aspekte greifen ineinander, wenn auch nicht ohne Konflikte. Denn die Anforderungen für die spätere berufliche Kompetenz setzen sich oftmals über die persönlichen Wissensinteressen hinweg. Die Kantische Frage „Was können wir wissen?“ mutiert zu der anderen Frage „Was müssen wir wissen?“ . Daraus ergeben sich die neuen Herausforderungen an Bildung: Frühe Förderung eines lebenslangen Lernens einhergehend mit einer Erziehung zur Verantwortung für sich selbst und die Gesellschaft; klargefasste Kompetenzen als Qualifikationsziele; Erprobung neuer Lern- und Lehrmethoden; Modernisierung des Wissenserwerbs, auch und gerade im Hinblick auf die internationalen Verknüpfungen und die Globalisierung. Wenn der „alte“ Wertekanon überholt erscheint, muss in der pluralistischen Gesellschaft das Grundprinzip einer allgemein anerkannten Ordnung von Wissensbeständen aufgegeben werden, denn eine offene Gesellschaft wächst in ihrer bunten Vielfalt dadurch, dass sie unterschiedliche Wertvorstellungen innerhalb gesetzlich fixierter Grenzen als gleichberechtigt akzeptiert. Allerdings darf das ursprüngliche gleich gültig nicht gleichgültig und damit konturlos werden.. Dazu bedarf es der Wiederentdeckung des Unterschieds zwischen bloßem Zweck und tieferem Sinn. Erst diese Suche nach dem Sinn “ macht Sinn“! Nur einen Standpunkt haben, heißt im wahrsten Wortsinn, auf einem Punkt stehen bleiben. Deshalb ist dagegen der Doppelbegriff des „Aufbruchs“ zu setzen: Aufbrechen wie eine Knospe, die erst im Aufbrechen zu ihrer Entfaltung kommt; Aufbrechen im Sinne eines Sich-auf-den-Weg-machen, einer Bewegung hin auf ein Ziel. Und da der Mensch ein soziales Wesen ist, wird er, wenn er sich auf den Weg macht, erkennen, dass er nicht allein ist und die fraternité der Suchenden erfahren. So können wir Werteorientierung im gemeinsamen Suchen anstreben und im ständigen Miteinander eines nicht abreißenden Wertediskurses (Jürgen Habermas) auf das gemeinsame Ziel hinarbeiten: Freiheit in Gleichheit und Verantwortung.
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Professor Dr. Martin Wilmers (Rheinische Fachhochschule Köln):
Evolution und Wissenschaft
- Zusammenfassung: Das Prinzip, das hinter Allem steckt, was in dieser Welt existiert, heißt: Evolution. Sie formt nicht nur die Arten, sie steuert auch alle Aktivitäten des Menschen, insbesondere die Wissenschaft, aber auch Wirtschaft, Politik und Philosophie. Vor 150 Jahren hat Darwin erkannt, dass die Entwicklung der Arten durch ein Wechselspiel zwischen Zufall und Auslese zu erklären sei. Doch die Reduktion seines Prinzips auf das Überleben des Stärkeren, des Rücksichtsloseren, des Brutaleren, des Intelligenteren ist keine ausreichende Erklärung. Es sind Strategien, wobei die wichtigste erst in jüngerer Zeit erkannt wurde: die Kooperation. Übrigens ist die Übersetzung des von Darwin geprägten Begriffes struggle for life mit „Kampf um das Überleben“ schlecht gewählt, denn struggle bedeutet wörtlich „sich abstrampeln“, das survival of th fittest, das Überleben derjenigen, die an die Aufgabe des Überlebens in ihren jeweiligen Lebensumständen an diese am besten angepasst sind. Wenn man die physikalischen Bedingungen betrachtet, die erfüllt sein mussten, damit wir alle entstehen konnten, dann kommt man ins Staunen über die große Baumeisterin Natur, die sich ein so fein abgestimmtes System ausgedacht hat. Von allen Gebieten, mit denen sich der Mensch beschäftigt, ist die Naturwissenschaft am unmittelbarsten mit der Evolution verbunden. Doch auch die Wissenschaft gründet sich auf einen Glauben. Wir glauben, dass es Naturgesetze gibt, dass diese universell in Raum und Zeit gültig seien, dass kein Wesen – Mensch oder Gott – diese auch nur für einen beschränkten Zeitraum oder einen beschränkten Ort oder gar global außer Kraft setzen kann, und dass unser Wissen über die Welt unvollständig ist und stets überprüft und erweitert werden muss. Darwin hat, nach Aussage Friedrich von Hayeks, seine Arbeitsthese von der Nationalökonomie übernommen, das heißt, die Idee des Wettbewerbs und der Auswahl des bestgeeigneten Systems wurde zuvor für die Wirtschaft entwickelt. Hitler hat diese Überlegungen durch ein unglaublich blutiges Experiment zu übernehmen versucht. Doch das vielzitierte „Gesetz des Urwalds“ lautet nicht, „Jeder gegen Jeden und der Brutalste gewinnt“, sondern „Kooperationen sind Einzelkämpfern auf Dauer überlegen“. So haben die Alliierten im Zweiten Weltkrieg Hitler niedergerungen. Das bedeutet nicht, dass Brutalität nicht auch erfolgreich sein kann. Aber während der langen weitgehenden Waffenruhe seit 1945 sind die meisten Diktaturen, links wie rechts, an ihrer Unfähigkeit gescheitert, mit modernen Demokratien wirtschaftlich zu konkurrieren. Auf Grund aller dieser Überlegungen brauchen wir mehr Aufklärung und Wissenschaftlichkeit auf allen Gebieten: Eine Psychologie, die auf ihren biologischen Wurzeln aufbaut, eine Soziologie, die in einer solchen wissenschaftlichen Psychologie gründet, eine Wirtschaftswissenschaft, die auf Naturgesetzen und Psychologie aufbaut . Schließlich und endlich muss der kühle Naturwissenschaftler vor der Natur des Menschen Respekt haben, wie er nun einmal als Produkt der Evolution ist. Damit schließt sich der evolutionäre Kreis. Toleranz ist der erste Schritt zur Kooperation.
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Hans Aichinger:
Wirrwarr, oh Wirrwarr
- Zusammenfassung: Anhand von Beispielen bildender Kunst stellt der Autor die Bedeutung künstlerischen Tuns für die Entwicklung von Mensch und Gesellschaft dar. Die wichtigste Bedeutung geistiger Tätigkeit und kommunikativen Handelns ist die Sinnsuche, die ordnende Selbstversicherung. Dabei wird der Alltag als eine Menge von Erlebnissen und Szenen imaginiert, die sich überlagern und gegenseitig durchdringen. Jahrtausende lang wurde die Welt religiös ganzheitlich und bildhaft wahrgenommen – im Gegensatz zu der abstrakt-gegliederten Welterfahrung des Menschen der Moderne. Die Erfindung der Schrift führte zum Übergang von einer bildhaften zu einer abstrakten sprachlichen Wahrnehmung. Logische Systeme können nun konstruiert werden und sich zwischen uns und unsere Erlebnisse schieben. Die Welt wird nicht mehr imaginiert, sie wird jetzt konzipiert und kann somit umfassend gestaltet werden. Die Möglichkeit, die Daseinsform als Konzept aufzufassen, die Welt zu gestalten, sich nach sich selbst zu richten, versetzt uns in einen Zustand zunehmender Freiheit. Spätestens mit dem Bildungsideal der Aufklärung wird aus einen bis dahin diffusen Grundgefühl die konstruktive Aufforderung: Der Mensch muss etwas aus dem machen, wozu er gemacht worden ist. Das führt aber auch zu einer existentiellen Beunruhigung. An der Schnittstelle gegensätzlicher Freiheitserfahrungen entsteht die Kunst, so wie wir sie heute verstehen. Der moderne Mensch erhält seine Identität nicht mehr durch die Erfahrung, ein Bestandteil der Realität zu sein. Zwischen Selbstsicherheit und Ungewissheit muss er sich nun ein Modell der Realität schaffen, um sich als Subjekt zu behaupten und erfahren zu können. Der Künstler steht hier mit seinen Hervorbringungen an exemplarischer Stelle. Der Wissenschaftler, ein anderer Spezialist im sich immer weiter ausdifferenzierenden Produktionsprozess, verfährt ebenso, wenn er experimentiert, Wissenschaftsgebiete absteckt und Hypothesen aufstellt. In der westlichen Moderne, nach dem zweiten Weltkrieg, erhält der Prozess der Zerstörung von Wahrnehmungsmustern und Sinnzusammenhängen eine neue Dimension. Neue Technologien ermöglichen eine immer schnellere Abbildung oder Simulation von Realität und ihrer weltweiten, zeitgleichen Verbreitung. Da ein Ereignis erst zur Realität wird, wenn davon berichtet wurde, kann im Umkehrschluss die Notwendigkeit zur Mitteilung auch ein Ereignis hervorbringen: Die Realität mit ihrer begrenzten Anzahl an Ereignissen sättigt den Informationshunger nicht mehr. Jenseits der Unfreiheit der Natur und der Verwertungsökonomie hilft uns die Kunst, die Erfahrung des „Schönen“ zu machen. Wenn ich male, schreibe, musiziere beziehungsweise betrachte, lese, höre, bin ich im Bereich des Schönen. Für Dritte zugleich anwesend und verschwunden. Vielleicht stellt diese eigentümliche Daseinserfahrung, „anwesend-abwesend“ zu sein, den Wert der Kunst dar.
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