Das eigentliche Erbeben des Ich (2014)

Akademietagung in Berlin, Samstag, den 8. November 2014
in Zusammenarbeit mit der Loge Zu den drei Seraphim

Zum Thema

Worin ein glückliches Leben besteht, darüber diskutieren die Menschen wohl seit Anbeginn menschlichen Lebens – und für die meisten von uns dürfte ausgemacht sein, dass der Genuss in einem glücklichen Leben einen prominenten Platz einnimmt. Der Genuss ist ein Erlebnis beispielloser Intensität, er ist „das eigentliche Erbeben des Ich“, wie es der Philosoph Emmanuel Levinas einmal ausdrückte. Doch das vermeintlich Evidente und Unmittelbare ist Teil einer Kulturgeschichte, die dieses Erlebnis nicht nur kommentierte (und gelegentlich moralisch bewertete), die Kulturgeschichte hat das, was wir heute unter Genießen verstehen, selbst geprägt. Die Tagung will sich beiden Aspekten widmen, dem kommentierenden und wertenden Blick auf den Genuss und den Transformationen des Begriffes vom Genuss selbst.

Auf den ersten Blick scheint der Genuss gar keiner Erklärung zu bedürfen – mit einer solchen Evidenz überflutet er das Ich, das gleichsam in ihm zu baden und sich in ihm aufzulösen scheint, ohne soziale Beziehungen. Die Studie „Die feinen Unterschiede“ des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zeigte hingegen, dass der Genuss tief verankert ist in soziale Prozesse. Geschmack ist soziales Distinktionsmerkmal: der Weinkenner distanziert sich sozial vom Biertrinker, der Opernbesucher sieht sich in einer anderen sozialen Stellung als der Besucher von Rockkonzerten, die Inszenierung des Fernsehkommissars an der Currywurst-Bude nach der Auflösung eines Falles hat eine soziale Botschaft. Der Frankfurter Soziologe Professor Dr. Christian Stegbauer hat sich in seinem Buch „Reine Geschmackssache? Eine kleine Soziologie des Genießens“ zum Ziel gesetzt, dem Leser zu vermitteln, wie sehr wir bis in unsere Geschmackswahrnehmung hinein durch unsere Umgebung geprägt sind.

Der Genuss ist lebenspraktisch immer auch bezogen auf sein Gegenteil, das Leiden. Wer sich im Übermaß dem Genuss hingibt, wird nach dem Genuss leiden. So erstaunt es nicht, dass geistesgeschichtlich beim Genuss immer auch das Thema behandelt wurde, worin das rechte Maß beim Genuss besteht. Während über weite Strecken der abendländischen Geschichte hier die Klugheit in Anschlag gebracht wurde, um die negativen Folgen des Genießens zu vermeiden, kommt spätestens mit dem französischen Surrealismus, hier an Erkenntnisse aus der Ethnologie anschließend, der Genuss in seinem existenziellen Selbstwert in den Blick, ganz ohne Rücksicht auf seine möglichen negativen Folgen. Der Philosoph Professor Dr. Thomas Mohrs, der sich u.a. am Zentrum für Gastrosophie an der Universität Salzburg engagiert, wirft einen geistesgeschichtlichen Blick auf den Begriff des Genießens, vom Hedonismus des Epikur über Ludwig Feuerbach bis zum „ersten“ Gastrosophen Eugen von Vaerst, der den Genuss von Speisen zu einer Kunstform erhebt.

Ein besonderes Verhältnis zum Genuss hat natürlich ein Koch. Engelbert Tschech, mehrfach ausgezeichneter Koch und Restaurantbesitzer in Graz, engagiert sich seit 1999 in der Slow Food Bewegung und will in seinen Vorträgen das Bewusstsein für die regionale Küche fördern. Als Praktiker ringt er ganz konkret „für die geruhsame sinnliche Lust gegen den universellen Tempowahn“.

Programm

10:00 Uhr
Begrüßung durch den Vorstandsvorsitzenden der Akademie forum masonicum Dieter Ney
Grußwort des National-Großmeisters der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ Thomas Engel
Grußwort des Stuhlmeisters der Loge „Zu den drei Seraphim“ Michael Goszdziewski

10:30 Uhr
Reine Geschmackssache. Eine kleine Soziologie des Geschmacks
Vortrag von Professor Dr. Christian Stegbauer und anschließende Diskussion

gegen 12:15 Mittagspause

14:30 Uhr
Hedonismus leben heißt – verzichten. (Vortragstext)
Vortrag von Professor Dr. Thomas Mohrs und anschließende Diskussion

16:30 Uhr
Die einfachen Dinge im Leben sind meist die besten
Vortrag von Engelbert Tschech und anschließende Diskussion

Die Referenten

Professor Dr. Christian Stegbauer
lehrt Soziologe an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main und forscht insbesondere im Bereich der sozialen Netzwerkanalyse.. 2006 erschien sein lesenswertes Buch „Geschmackssache? Eine kleine Soziologie des Genießens“ im merus-Verlag

Professor Dr. Thomas Mohrs
ist Philosoph und lehrt an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz/Österreich. Er ist Mitarbeiter am Zentrum für Gastrosophie und beschäftigt sich mit Fragen der philosophischen Anthropologie, insbesondere der angewandten Ethik der Ernährung

Engelbert Tschech
ist Koch und Besitzer des Restaurants Corti in Graz und erhielt zahlreiche Preise, insbesondere die erste Mütze des Gault Millaut für ein italienisches Restaurant in Österreich. Der Autor von Kochbüchern gründete 1999 das Slow Food Convivium Graz-Steiermark und setzt sich für die Stärkung regionaler Küche ein

Praktische Informationen

Veranstaltungsort: Logenhaus der Großen National-Mutterloge Zu den drei Weltkugeln“, Heerstr. 28, 14052 Berlin

Flyer zur Jahrestagung 2014