Freimaurerei und Religion

Vortrag zum Diskussionsabend unter dem Thema “Freimaurerei und Religion”
der Akademie forum masonicum e.V. am 21. März 2024
von Dieter Ney

In den Selbstdarstellungen der Freimaurerei findet man immer wieder die Aussage, dass es sich bei der Freimaurerei weder um eine Religion noch um eine Ersatzreligion handelt. Damit sollte alles klar sein, oder?

Wieso sollte man sich die Frage stellen, ob Freimaurerei eine Religion ist?

Anlässe, dieser Frage nachzugehen, gibt es aber.

  1. In der Außenperspektive wird die Freimaurerei gelegentlich als Religion erkannt. Das klassische Beispiel stellt hier die katholische Kirche dar. Schon in der Bulle “In eminenti” aus dem Jahr 1738 wird als einer der Gründe für die Verurteilung der Freimaurerei der Häresieverdacht aufgelistet. Für sich genommen meint der Begriff Häresie erst einmal eine Lehre, die im Widerspruch – hier – zur Lehre der katholischen Kirche steht; damit ist noch nicht gesagt, dass es sich um eine Religion handeln muss. In die gleiche Richtung geht “Providas romanorum” (1751), wo die Freimaurerei in die Nähe von Sekten gestellt wird.Ab der Bulle “Ecclesiam a Jesu Christo” aus dem Jahr 1821 bekommen die kirchlichen Verurteilungen eine etwas andere Richtung. Wohl unter dem Eindruck der italienischen Unabhängigkeitsbewegung, die den Vatikanstaat bedroht und die man in die Nähe der Freimaurerei rückt, steht hier eher – neben den schon früher bekannten Vorwürfen der religiösen Indifferenz und der Geheimnistuerei – die unterstellte politische Feindschaft der Freimaurerei (oft gleichgesetzt mit den Carbonari) gegenüber der katholischen Kirche im Vordergrund. In den folgenden Verurteilungen steht der Vorwurf des Liberalismus im Vordergrund, der als Gefährdung der religiösen Autorität empfunden wird. In der Enzyklika “Humanum genus” (1884) wird dem Reich Gottes auf Erden ein Reich Satans gegenübergestellt, dem auch die Freimaurerei zugeordnet wird. Trotz der religiösen Metaphorik geht es auch hier noch um die unterstellte kirchenfeindliche Politik. Jenseits der offiziellen kirchlichen Verurteilungen finden sich aber auch – spätestens befeuert durch den “Taxil-Schwindel” (1885-1897) – Vorwürfe gegen die Freimaurerei, die als Kirche Satans betrachtet wird, hier jedoch durchaus im Sinne einer Gegenreligion. Diesen Vorwurf findet man bis heute noch in katholisch-traditionalistischen (siehe die YouTube-Beiträge von Bischof Athanasius Schneider) oder in evangelikalen Kreisen.
  2. Betrachtet man die akademischen Freimaurerforscher, so fällt auf, dass sich – neben den immer noch dominierenden Historikern (Helmut Reinalter, Dieter Binder, Andreas Önnerfors, Hervé Hasquins, David Stevenson, Cécile Révauger – zunehmend Vertreter aus Fachbereichen finden, die sich explizit mit Religion beschäftigen, z.B. Religionswissenschaft (Henrik Bogdan, Jan Snoek), Religionssoziologie (Massimo Introvigne) oder die Geschichte der Religion (Antoine Faivre).
  3. Freimaurerei als esoterische Bewegung: In jüngerer Zeit erscheinen zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zur Freimaurerei im Umfeld der so genannten westlichen Esoterikforschung, deren Doyen der französische Religionshistoriker und Freimaurer Antoine Faivre (1934-2021) war. In Deutschland beschäftigte sich gelegentlich Karl Hoheisel mit diesem Themengebiet und nahm auch Magisterarbeits- und Promotionsthesen in diesem Bereich an der Universität Bonn an, was zur damaligen Zeit eher selten verbreitet war. Karl Hoheisel war auch lange im wissenschaftlichen Beirat der Akademie forum masonicum.
  4. Und schließlich gibt es sogar innerhalb der Freimaurerei die z.B. von Klaus-Jürgen Grün vertretene Position, dass bestimmte Ausprägungen der Freimaurerei den Charakter einer Religion bzw. – um einen Kampfbegriff zu benutzen – einer Sekte haben.

Mein persönlicher Zugang zur Bearbeitung der Frage, ob es sich bei der Freimaurerei um eine Religion handelt, ist geprägt von der Diskussion innerhalb der Religionswissenschaft, was denn der Gegenstand dieser Wissenschaft ist. Wenngleich es heute als Konsens gilt, dass es keine verbindliche Definition von “Religion” gibt, ist eine Beschäftigung mit den bekanntesten Bestimmungsversuchen des Begriffes Religionen dieser Disziplin hilfreich.

Ein Blick auf die Etymologie und was sie offenbart

Der Begriff “Religion” wurde von Cicero und Laktanz in umstrittenen Etymologien von den lateinischen Verben relegere bzw. religare abgeleitet. In einem Artikel des in Hannover lehrenden Religionswissenschaftlers Peter Antes (“Religion in the Study of Religions”, 2012, https://core.ac.uk/download/pdf/267931314.pdf, Abruf 19.3.2024) und unter Bezug auf die vierbändige Studie “Religio” von Ernst Feil (Göttingen 1886-2007) werden die beiden Etymologien in den kulturellen Kontext der beiden Autoren gestellt. Während Cicero das Wesen der Religion, ganz im Sinne der römischen Staatsreligion” in der akribischen Wiederholung der Riten sieht (relegere, wieder lesen, überdenken, aber auch: rituelle Pflichten gewissenhaft beachten), führt der christliche Apologet Laktanz im dritten Jahrhundert nach Christi den Begriff Religion auf religare (zurückbinden, hier Rückbindung an Gott) zurück und stellt die Bindung an Gott ins Zentrum der Begriffsbestimmung.

Die religiöse Vielfalt führt zum Scheitern einer abstrakt-inhaltlichen Bestimmung von Religion

Als Begriff zur Bezeichnung von Phänomenen wie Christentum, Islam, Hinduismus und ähnliches etabliert sich der Begriff Religion aber erst viel später in der Zeit der Aufklärung. Zu einem reflektierten Gebrauch des Begriffs kam es im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck der nun zugänglich gewordenen religiösen Textquellen aus anderen kulturellen, näherhin asiatischen Religionen (so die fünfzigbändige und ab 1875 von Friedrich Max Müller herausgegebenen “Sacred Books of the East”), die das Verständnis von Religion auf allein christlich-abendländlicher Basis in Frage stellten.

Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts dominierten Versuche, den Begriff Religion unter Bezugnahme auf die Glaubensinhalte zu bestimmen. Peter Antes rekonstruiert die Entwicklung der Bestimmungsversuche über erste Definitionen, die die Bindung an Gott als Wesensmerkmal in den Vordergrund stellten, die aber zu eng gefasst sind, um polytheistische Religionen zu umfassen. Eine Erweiterung dieser Definitionen, die dann auch Götter und Göttinnen umfasste, greifen ebenfalls zu kurz, weil sie unpersönliche Formen des Göttlichen ausschlossen.

Der Rückgang auf die Erfahrung des Heiligen als Grundlage der Bestimmung der Religion … und die heiklen Voraussetzungen dieser Position

Vor diesem Hintergrund erschien 1917 das Buch “Das Heilige” des ab diesem Jahr auch an der Universität Marburg lehrenden Rudolf Otto, der nicht nur durch den Begriff des Heiligen, der als Gattungsbegriff den persönlichen Gott, Gottheiten im Polytheismus ebenso wie unpersönlich Göttliches umfasste, zu einem allgemeineren Verständnis der Religion gelangte, sondern die Religion als die Begegnung des Menschen mit dem Heiligen bzw. mit Erscheinungsformen des Heiligen bestimmte.

Die Eigentümlichkeit des Ansatzes von Rudolf Otto bestand darin, ganz im Sinne der damals v.a. von Edmund Husserl in der Philosophie entwickelten Phänomenologie, das Göttliche bzw. Gott in der menschlichen Erfahrung zu entdecken und die Besonderheiten dieser Erfahrung zu analysieren. Und als irreduzible Momente dieser Erfahrung ermittelte er das mysterium tremendum und das mysterium fascinans, d.h. die Erfahrung des Heiligen als Geheimnis mit einer alle Vernunft transzendierenden Dimension, dessen Unheimlichkeit allerdings gemildert wird durch das beglückende Gefühl in der Begegnung mit dem Heiligen.So faszinierend dieser Perspektivwechsel war, so sehr wurde ebenfalls klar, dass diese Gegenstandsbestimmung der Religionswissenschaft eine Voraussetzung hatte, die – so die Kritiker Rudolf Ottos – nicht bzw. nicht angemessen vollständig rational vermittelbar war: nämlich die Erfahrung eben dieses Heiligen, über die nicht jeder verfügte – eine Art Sensibilität, die wie die Musikalität im Bereich der Musik notwendige Voraussetzung für eine angemessene Wahrnehmung des Religiösen ist. Gustav Mensching, Schüler von Rudolf Otto und erster Lehrstuhlinhaber für Religionswissenschaft an der Universität Bonn, erweiterte die Begriffsbestimmung von Religion; sie sei “erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen“, womit er einerseits die Gründung der Religion im menschlichen Erleben des Heiligen im Sinne Ottos übernahm, andererseits aber auch die beobachtbaren und infolgedessen beschreibbaren Anteile der Religion (das Handeln des Menschen) in den Blick der Religionswissenschaft rückte.

Doch nicht nur die religiöse “Musikalität” als Voraussetzung in der Person des Religionswissenschaftlers stellte ein Problem dar. Wenn diese Erfahrung als mysterium tremens und mysterium fascinans spezifisch für Religion ist, dann korreliert diese Erfahrung einer metaphysischen Realität. Dies sahen in den 70er Jahren auch die Kritiker Rudolf Ottos und qualifizierten den Ansatz als Krypto-Theologie, denn im Verständnis der Kritiker charakterisiert die (christliche) Theologie die Annahme einer metaphysischen Realität – kurz: den Glauben an Gott -, wohingegen die vergleichende Religionswissenschaft als eigenständige und sich von der christlichen Theologie abgrenzende wissenschaftliche Disziplin beanspruchte, auch ohne Glauben gültige Aussagen über Religionen machen zu können.

Es schien, als wenn man bei der Bestimmung des Gegenstandes der Religionswissenschaft in einer Sackgasse gelandet war. Folgte man Rudolf Otto, konnte die Disziplin nur der Wissenschaftler ausüben, der sowohl über die rational nicht einholbare religiöse Musikalität verfügte, die ihm allererst den Zugang zur Erfahrung des Heiligen ermöglichte, welche seinerseits, wenn sie eben als eine Erfahrung des Heiligen qualifiziert wird, auch den Glauben an die metaphysische Realität des Heiligen notwendig zu machen schien. Eben v.a. aufgrund der letztgenannten Voraussetzung, wird die Position Rudolf Ottos und der ihm folgenden Religionswissenschaftler wie z.B. Gustav Mensching, Gerard van der Leeuw, Mirca Eliade in der wissenschaftlichen Literatur als substantialistische bzw. essentialistische Position bezeichnet. Die Alternative einer Religionswissenschaft, die diese Voraussetzungen nicht teilte, geriet in das Problem, dass sie die gemeinsamen Merkmale aller Religionen aufgrund der empirischen Vielfalt religiöser Phänomene nicht bestimmen konnte. Damit schien die Gegenstandsbestimmung des Faches der Religionswissenschaft über eine Beschreibung der Glaubensinhalte an ein Ende gekommen zu sein.

Der Blick weg von der Religion, hin auf den religiösen Menschen

Einen Ausweg aus dem Dilemma schien die anthropologischen Wende zu bieten, nach der – gemäß Hartmut Zinser, der seit 1990 am Institut für Religionswissenschaft der FU Berlin lehrt – der Gegenstand der Theologie zwar Gott ist, der Gegenstand der Religionswissenschaft hingegen der Mensch, der an einen Gott, an Götter bzw. an Göttliches glaubt. In einer solchen Perspektive spielt die Antwort auf die Frage, ob es das Göttliche gibt, methodisch keine Rolle mehr. Eine so verstandene Religionswissenschaft macht dann die Vielfalt der von den Gläubigen geglaubten Inhalte und ihre Konsequenzen auf das Handeln der Gläubigen zum Thema; sie fragt dann nach der Funktion, die Religion für den Glaubenden hat, wodurch diese Position – in Abgrenzung vom Essentialismus Rudolf Ottos – als funktionalistisch charakterisiert wird. Mit der anthropologischen Wende bekommen religionswissenschaftliche Untersuchungen einen zunehmend interdisziplinären Zug. Sie bedienen sich der Methoden aus verschiedenen empirischen Sozialwissenschaften und unterscheiden sich stark von den eher metaphysisch geprägten Arbeiten früherer Zeiten.

Ein berühmtes Beispiel für eine Begriffsbestimmung von Religion unter dem Eindruck dieses neuen Paradigmas ist die des amerikanischen Ethnologen, Soziologen und Kulturanthropologen Clifford Geertz (1926-2006). Demnach ist Religion 1. ein Symbolsystem, das darauf zielt, 2.starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, indem es 3. Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und 4. diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass 5. die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.

Hier wird, in der Tat, keine Aussage über den Wahrheitsgehalt von Aussagen über das Heilige gemacht, stattdessen kommen die Wirkungen von religiösen Symbolsystemen (seien dies Riten, religiös-moralische Vorschriften oder ausgefeilte theologische Lehrgebäude) – bei Geertz angesprochen als dauerhafte(!) Motivationen und Stimmungen – in den Blick des Forschenden. In diesem Sinne gehört diese Begriffsbestimmung klar zu den funktionalistischen.

Näherhin wird diese Position von Geertz kritisch als kulturalistisch bezeichnet, denn sie geht davon aus, dass das angesprochene Symbolsystem als vorgegebener kultureller Faktor den Menschen maßgeblicher bestimmt als etwa die Geschichte, die Politik, die soziale Situation etc. Diese Ausblendung von Geschichte, politischer und sozialer Verhältnisse wurde wenig überraschender Weise kritisiert. Dennoch geht für mich von dieser Begriffsbestimmung eine Faszination aus. Blendet man die dogmatische Annahme des Vorrangs des Symbolsystems aus, kann sie durchaus eine hohe Leistungskraft entfalten, insbesondere in unserem Kontext.

Ein Rückblick mit dem kritischen Einwand, dass es sich nicht um eine Fortschrittsgeschichte handelt

Ich denke, dass ich die Entwicklung der Diskussion um die Gegenstandsbestimmung der Religionswissenschaft bis zum heutigen Stand hinreichend erläutert habe, ohne mich allzu sehr in Details verloren zu haben. Das ist ein guter Augenblick, noch einmal einen kurzen Rückblick zu machen.

  1. So wurde zuerst versucht, Religion über Wesensmerkmale von Religionen zu bestimmen, wobei sich die Schwierigkeit ergab, dass es – nachdem man Kenntnisse über andere, nicht vertraute Religionen gewann – kulturübergreifend keine solche einheitlichen Wesensmerkmale zu geben schien.  Hier ergab sich die Schwierigkeit: Die vielen Glaubensinhalte und Glaubenssysteme schienen sich in ihrer Vielfalt nicht unter einen Nenner bringen zu lassen.
  2. Es folgte der Versuch von Rudolf Otto, die metaphysische Entität (der persönliche Gott, die Götter oder das Göttliche) unter den abstrakten und die Vielfalt des Religiösen nicht diskriminierenden Begriff des Heiligen zu subsumieren und den Blick für die Erfahrung vom Heiligen im Menschen zu schärfen. Diese Erfahrung war für Rudolf Otto im Sinne der Phänomenologie der existentielle und einheitliche Ausgangspunkt für die reale religiöse Vielfalt. Hier wiederum ergab sich das Problem, dass diese Position Voraussetzungen implizierte, die rational nicht einholbar waren, nämlich die Voraussetzung, dass der Religionswissenschaftler selbst über die Erfahrung des Heiligen verfügte und dass er eine rational nicht begründbare korrelierende metaphysische Realität annehmen musste.
  3. Vor diesem Hintergrund kam es zur anthropologischen Wende, mit der auf die Annahme einer metaphysischen Realität methodisch verzichtet wurde und stattdessen der Mensch in den Blick des Forschers geriet, der an solche metaphysischen Realitäten glaubte und bei dem es – auf der Basis dieses Glaubens – zu sichtbaren und damit beschreibbaren Handlungskonsequenzen kam. Methodisch unterschied man sich nicht mehr von anderen empirischen Sozialwissenschaften oder Kulturwissenschaften. Was die Religionswissenschaften als eigenständige Disziplin ausmachte, war hier lediglich die Verwendung religiöser Symbole im kulturellen System oder die Selbstaussage des beobachteten Menschen, dass er sich als religiös bestimmt wahrnimmt.

Was hier als eine historische und logische Abfolge von Paradigmen der Bestimmung des Religionsbegriffs erscheint, mit Bestimmungen, die jeweils auf die Defizite des vorausgehenden Paradigmas reagieren, ist stark vereinfacht. Verzichtet man darauf, die geschichtlich früheren Bestimmungsversuche als durch die geschichtliche folgende überholt zu betrachten, dann hat meine Darstellung hoffentlich einen heuristischen Wert.

Meine Position in der Debatte um den Begriff Religion

Tatsächlich glaube ich an eine Art Problemkontinuität bei der Bestimmung des Begriffes Religion, auf die die unterschiedlichen Paradigmen mit möglicherweise untereinander nicht abbildbaren epistemischen Logiken reagieren. Im Rahmen dieser Veranstaltung macht es keinen Sinn, auf meine Position en detail einzugehen; das würde am Hauptthema vorbei gehen. Aber im Sinne der intellektuellen Aufrichtigkeit sei gesagt, dass ich den Versuchen, im Sinne Rudolf Ottos die Erfahrungsdimension ins Zentrum der Begriffsbestimmung von Religion einiges abgewinnen kann. Dem widerspricht auch nicht meine Sympathie für die Religionsbestimmung von Clifford Geertz. Der in Frankfurt lehrende Religionswissenschaftler Wolfgang Gantke hat in seiner Habilitation “Der umstrittene Begriff des Heiligen” versucht, die bei Otto und Mensching unterstellte metaphysische Realität einerseits zu relativieren, aber auch zu radikalisieren, indem er die spezifisch religiöse Erfahrung als Erlebnis der existentiellen Unergründlichkeit ins Spiel bringt. Im Gegensatz zur essentialistischen Position wird hier aber keine metaphysische Positivität methodisch gesetzt, wenngleich auch nicht ausgeschlossen. Und in dieser Unterbestimmtheit als Unergründlichkeit ist die religiöse Erfahrung eher akzeptabel als die religiöse Musikalität, die Rudolf Otto fordert. Und schließlich wird anerkannt, dass das, was nach Geertz zu dauerhaften Motivation und Stimmungen führt, im subjektiven Erlebnishorizont des Gläubigen eine – eben als dauerhafte Bestimmung – besondere (und andere im subjektiven Verständnis innerweltliche Ansprüche relativierende) Würde hat, die es methodologisch zu berücksichtigen gilt, ganz gleich, ob man sie auch persönlich teilt.

Was bedeutet das alles für die Freimaurerei? Ist sie eine Religion?

Das war ein langer Anlauf, aber ich denke, dass wir bei der Behandlung der Frage, ob die Freimaurerei eine Religion ist, von den Diskussionen um den Gegenstand der Religionswissenschaften profitieren können, zumal ich keinen Beitrag kenne, der sich im Kontext der Freimaurerei dieser Frage auf die internen Diskussionen eben der Religionswissenschaften bezieht.

Wenn ich mich im Folgenden auf die beiden Begriffsbestimmungsversuche für Religion von Geertz und Otto beziehe, dann nehme ich diese als beispielhafte Vertreter für eine essentialistische und eine funktionalistische Definition. An ihnen ist zu prüfen, ob die Freimaurerei den Charakter einer Religion hat.

Die bekannten Argumente, die gegen die These der Freimaurerei als Religion sprechen, greifen nicht

Ein erster Ertrag der Auseinandersetzung mit der Religionsdefinition in der Religionswissenschaft besteht darin, dass Religion nicht verstanden wird als Institution mit Dogmen oder Lehrgebäude. In der freimaurerischen Literatur findet man oft den Hinweis, dass es sich bei der Freimaurerei gar nicht um eine Religion handelt, weil es in ihr keine Dogmen und auch kein Lehrgebäude gibt. Das wird in den Definitionen von Otto und Geertz auch gar nicht verlangt.

Ebenso wird in der Freimaurerei darauf hingewiesen, dass es in ihr keinen spezifischen Gottesbegriff gibt. Es gibt lediglich einen Verweis auf ein Supreme Being in den Alten Pflichten und den Verweis auf den Großen Baumeister aller Welten, in dessen Namen in vielen Freimaurerlogen das Ritual formell begonnen wird. Der Vollständigkeit ist zu erwähnen, dass dies nur auf alle Ausprägungen der Freimaurerei zutrifft. Einige Großlogen verzichten auf beides, auf den Glauben an ein Supreme Being als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einer Loge und auf die “Anrufung” des Großen Baumeisters bei der Öffnung der Loge. Aber das kein Argument gegen den religiösen Charakter der Freimaurerei, denn ein spezifisches Gottesbild als Merkmal von Religionen fehlt auch in den angesprochenen Definitionen von Otto und Geertz.

Die Freimaurerei, so heißt es weiter, enthalte sich von Aussagen über Heilsmittel (Sakramente)/Heilsvermittler und das Leben nach dem Tod. Ersteres ist m.E. richtig, letzteres ein wenig schwieriger, denn einige Formulierungen, die in der Freimaurerei in der Alltagssprache Verwendung finden, könnten als Hinweis auf ein Leben nach dem Tod verstanden werden (“Der Bruder ist in den ewigen Osten eingegangen”), aber das spielt hier auch keine Rolle, denn Otto und Geertz verlangen dies nicht in ihren Definitionen.

An dieser Stelle möchte ich nicht eingehen auf die Elemente der Freimaurerei, die man als Hinweis darauf verstehen könnte, dass es sich um eine Religion handelt. Die Klassiker sind: die Verwendung von Bibelzitaten in den Ritualen (die finden sich nicht in allen gebräuchlichen Ritualen), die in manchen Großlogen vorgeschriebene Verwendung der Bibel als Symbol des Heiligen Gesetzes und die zeitweise in der United Grand Lodge of England verwendete nähere Bestimmung des Supreme Being als personaler oder als sich offenbarender Gott. All dies findet man bei Otto und Geertz nicht.

Und zuletzt: Dass es sich bei der Freimaurerei nicht um eine Religion handeln kann, wird oftmals durch einen Verweis auf die Verbindung der Freimaurerei mit der philosophischen Aufklärung begründet, denn diese habe mit einem naiven Religionsverständnis gründlich aufgeräumt. Auf diesen Punkt möchte ich hier nicht eingehen; es mag sein, dass es eine geistige Nähe zur Aufklärung gibt, diese schlägt sich aber in der rituellen Praxis nur marginal nieder (man denke an das Beförderungsritual, in dem es in manchen Ritualen einen sehr starken Bezug auf die neuzeitliche/aufklärerische Wissenschaft gibt).

Was könnte denn für die Freimaurerei als Religion im Sinne von Otto und Geertz sprechen?

Für Rudolf Otto liegt dann Religion vor, wenn es zu einer Begegnung des Menschen mit dem Heiligen in der Manifestation eines mysterium tremens und fascinans kommt. Könnte man dies nicht so interpretieren, dass all das als Religion zu bestimmen ist, in dem es zu einer Erfahrung eines mysterium tremens und fascinans kommt? In den Gradwechselarbeiten der Freimaurerei (also Aufnahme, Beförderung, Erhebung etc.) gibt es unbestreitbar Elemente, die bewusst ein Erschaudern und eine Faszination auslösen können. Der Kandidat weiß bei solchen Ritualen nicht, was mit ihm passieren wird und diese Asymmetrie im Ritualwissen kann auf der emotionalen Ebene einen Schauder und eine Faszination auslösen. Jedoch muss man hier einschränken, dass der Schauder und die Faszination sich aus dieser Asymmetrie ergeben. Das Ritual legt nicht nahe, dass diese Emotionen durch eine metaphysische Realität ausgelöst werden.

Für Clifford Geertz ist die Religion ein Symbolsystem, das Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung zum Ausdruck bringt. Das ist gar nicht weit von der Freimaurerei entfernt. Es gibt Elemente freimaurerischer Ritualistik, die symbolisch eine Seinsordnung darstellen – ich denke da z.B. an den so genannten Arbeitsteppich. Auch kosmologische Elemente sind im Ritual zu finden, die die rituellen Handlungen in einen kosmischen Bezug setzen. Die Einordnung der vier Elemente bei den so genannten Wanderungen bei der Aufnahme können auch als Ausdruck eines Bezugs zu einer symbolischen Seinsordnung verstanden werden. Außerdem soll das religiöse Symbolsystem “umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen auslösen. Auch das kann im Falle der Freimaurerei nicht bestritten werden. Schwieriger wird es mit dem Punkt, dass die durch das Symbolsystem vermittelte Seinsordnung mit einer “Aura der Faktizität umgeben werden”, mit dem Effekt, dass die erzeugten Stimmungen und Motivationen für Realität gehalten werden. Die Formulierung “Aura der Faktizität” ist ein wenig vage, lässt aber vermuten, dass eine Religion den Anspruch hat, Aussagen über die reale Seinsordnung zu machen, die von den Anhängern “geglaubt” werden, d.h. dass sie für wahr gehalten werden und handlungsrelevant sind. Das wäre in der Tat für die Freimaurerei zu diskutieren. Dass auch die freimaurerische symbolische Arbeit Handlungsrelevanz besitzt, scheint mir hoch plausibel – der im Kontext der Freimaurerei als Einübungsethik könnte in diesem Sinne verstanden werden. Da aber die Freimaurerei Vorstellungen einer Seinsordnung bewusst in Form von individuell zu interpretierenden Symbolen vermittelt, kann – zumindest in allgemeiner Form – hier nicht davon ausgegangen werden, dass die Freimaurerei für sich beansprucht, eine bestimmbare Aussage über die reale Seinsordnung zu machen. Dass die Mitglieder dies anders sehen können, wird allerdings auch nicht ausgeschlossen, zumal die aufwändige und eindrückliche rituelle Inszenierung unter aktiver Einbindung des Kandidaten sinnlos wäre, wenn es nur um ein einfaches, harmloses symbolisches Spiel ginge.

These zum religiösen Charakter der Freimaurerei

Es liegt mir fern, in meinem Vortrag nachzuweisen, dass es sich bei der Freimaurerei um eine Religion handelt. Vielmehr möchte ich anregen, die allzu schnelle Abweisung jeden religiösen Charakters der Maurerei kritisch zu bedenken.

Dass es diese Abgrenzung in der freimaurerischen Literatur gibt, kann geschichtliche, politische, ja sogar religiöse Gründe haben. In der Gründungsphase der institutionalisierten Freimaurerei in England mag die Abgrenzung von der Religion den Sinn gemacht haben, die durch die Religionskriege belastete englische Gesellschaft zumindest im Mikrokosmos der Logen vor toxischen Konflikten zu schützen. Vielleicht wollten sich die bürgerlichen Kreise, die die Träger der Freimaurerei waren, im Sinne neuzeitlicher und aufklärerischer Ideen vom tradierten, nun als veraltet wahrgenommenen Religionsverständnis abgrenzen. Und schließlich: Vielleicht wollte man nicht in Konflikt geraten mit dem religiösen Exklusivitätsanspruch der katholischen Kirche, deren Mitglied viele Freimaurer waren. Dies wären aber alles nur funktionale Gründe. Religionswissenschaftlich könnte das anders aussehen.

Beide Definitionen von Religion, die von Rudolf Otto wie auch die von Clifford Geertz, betrachten die Erfahrung des Menschen als den Ort, an dem sich Religion konstituiert, nämlich genau dann, wenn man eine gemachte Erfahrung zurückführt entweder auf eine metaphysische Realität (wie im Falle von Rudolf Otto) oder auf den Effekt eines Symbolsystems, das dazu führt, die vermittelte symbolische Seinsordnung als Realität zu empfinden (wie im Falle von Clifford Geertz). In diesem Sinne entscheidet sich die Frage, ob die Freimaurerei eine Religion ist oder nicht im Umgang des Menschen mit Erfahrungen, die sich nicht einfachhin auf die alltägliche innerweltliche Rationalität zurückführen lassen.

Ich kenne Freimaurer aus eigener Erfahrung, die zu den Logenabenden kommen, um sich mit Freunden zu umgeben und um sich mit ihnen in einer angenehmen (weil von den Sorgen des Alltags etwas entfernten) Atmosphäre auszutauschen. Für diese wird die Freimaurerei frei von jeder Religion sein.

Andere Mitglieder des Bundes suchen eher die ungewöhnliche Stimmung oder Atmosphäre der rituellen Arbeit, die – wie die Ritualtheorie plausibel vermittelt – als Nebeneffekt zu einer besonderen sozialen Verbundenheit innerhalb der Gruppe führt. Die besondere Sensibilität einiger Menschen für Stimmung und Atmosphäre impliziert noch nicht, dass man den Grund für eine besondere Atmosphäre in einer metaphysischen Realität sieht. Sie ist einfach ein Teil unserer menschlichen Erfahrung, allerdings mit der Besonderheit, dass man meist nicht so genau erklären kann, woher diese Atmosphäre eigentlich kommt. Das unterscheidet sie von alltäglichen Gefühlen, deren Gründe transparenter sind. Stimmungen und Atmosphäre sind aber kein Privileg der Freimaurerei; so mancher von uns wird sie erleben, wenn er durch die viel zu großen Türen einer Kirche geht, unter einer viel zu hohen Decke steht und umgeben ist von Fenstern, durch die man nicht hindurchschauen kann. Atmosphäre und Stimmungen ergeben sich oft dort, wo wir eine vom Alltag abweichende, ihr vielleicht sogar widersprechende Ordnung finden: eine Kathedrale, ein Fußballstadion, ein Bordell oder eben auch eine Freimaurerloge. Das erinnert an den von Michel Foucault verwendeten Begriff der Heterotopie (wörtlich übersetzt: Anders-Ort). An solchen Orten findet dann in gewisser Hinsicht eine Wiederverzauberung der durch Intellektualisierung und Rationalisierung im Alltag entzauberten Welt statt. Das hat aber nicht zur Folge, dass wir die Ursache für die Atmosphäre und Stimmungen im religiösen Charakter z.B. der Freimaurerei suchen müssen.

Schließlich gibt es Mitglieder im Bund, die tatsächlich das Symbolsystem der Freimaurerei als Manifestation der Seinsordnung sehen, angeregt vielleicht durch die “Aura der Faktizität”, die durch die Inszenierung im Ritual erzeugt wird. Sie erleben ein mysterium tremens und fascinans im freimaurerischen Tempel. Für sie ist dann die Freimaurerei eine Religion im Sinne von Otto und Geertz.

Bleibt am Ende dazu Fazit: Freimaurerei ist nicht per se eine Religion; ob sie eine solche ist oder nicht, entscheidet sich in der Haltung, die der das freimaurerische Ritual erlebende Mensch zu eben diesem Erlebnis einnimmt. Die Spannbreite der möglichen Haltungen ist weit; sie reicht von der Wahrnehmung des Rituals als zu tolerierende Rahmenhandlung für die eigentlich im Vordergrund stehende menschliche Begegnung über den Genuß einer vom Alltag distanzierenden Stimmung ohne metaphyischen Bezug bis hin zum Erlebnis einer gläubig als Realität angenommen kosmischen Seinsordnung.