Individualismus. Ende oder Wende des Religiösen?

Akademietagung in Bad Oeynhausen, Samstag, den 9. Oktober 2004
in Zusammenarbeit mit der Freimaurerloge „Zur heilbringenden Quelle“

Vorträge mit anschließender Diskussion

PD Dr. Katharina Ceming (Universität Paderborn):
Der Hinduismus zwischen Individualismus und Kollektivismus

  • Zusammenfassung: Das den Hinduismus verbindende Element ist nicht in einer Glaubenslehre zu finden, sondern in seiner sozialen Manifestation, dem Kastenwesen. Im hinduistischen Verständnis dient es der bestmöglichen Organisation der Gesellschaft und ist innerweltlicher Ausdruck des dharma, der kosmischen Ordnung, in der jedes Seiende seinen Platz und seine spezifische Aufgabe hat. Entsprechend bestimmt das Kastenwesen für jede Kaste – als Kastendharma – eigene Lebensregeln, deren Verletzung als Angriff auf die kosmische Ordnung verstanden wird. Darüber hinaus legt es auch das Verhältnis der Kasten untereinander in Form einer strengen Hierarchie fest. Individuelle Selbstverwirklichung ist innerhalb dieser religiösen Konzeption genauso unmöglich, wie der Rückzug der Religion ins rein Private, da diese die Grundlage der Gesellschaft ist. Dieser Gruppenreligion – verstanden als die ritualistische und hierarchisch organisierte Form des Hinduismus – steht nach Louis Dumont der heilsorientierte Hinduismus mit seinem individualistischen Erlösungskonzept gegenüber, nach dem Erlösung dort gelingt, wo die eine, absolute und ihrem Wesen nach unaussagbare Wirklichkeit (brahman) vom Menschen erkannt wird, was nur möglich ist, weil der Mensch selbst Anteil an dieser Wirklichkeit hat und diese, als Einsicht in die wahre Natur des Menschen (atman), erfahren kann. Erfolgt in der Gruppenreligion die Erlösung aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten durch stetigen Aufstieg in der Kastenhierarchie auf dem Weg der Befolgung der Kastenregeln, so gelingt dies in der zweiten  Form des Hinduismus durch mystisch-asketische Übungen.
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Professor Dr. Knut Walf (Universität Nijmwegen):
Religion – Ende oder Wende? Überlegungen zu stillen Fluchten aus institutioneller Religion und in Religiosität

  • Zusammenfassung: In Europa und Nordamerika nimmt die Bedeutung der traditionellen Religionen dramatisch ab;an ihre Stelle tritt das zunehmende Interesse an anderen Formen religiösen Lebens. Einer der Gründe für den Wandel liegt in der inneren Tendenz der institutionalisierten Religion zur Verfestigung ihrer Glaubens- und Morallehre, die aus der Perspektive historischer Distanz veraltet oder unverständlich erscheinen. Die traditionelle Funktion der Religion – Weltinterpretation und gesellschaftliche Stabilisierung – übernehmen heute einerseits individuelle religiöse Konstrukte, andererseits nicht-religiöse gesellschaftliche Institutionen. Neben einer funktionalen Ablösung der Religion kommt eine moralische Kompromittierung hinzu, die sich in der historischen Erkenntnis gründet, dass die Religion in ihrer Geschichte auch unermessliches Unheil in die Welt gebracht hat. Nicht zuletzt ist es auch die Begegnung mit anderen Religionen und die Bewegung des New Age, die zur Relativierung der tradierten Religion führt. Begreift man Religion als von Anbetung, Liturgie und Mystik geprägt, dann wird die Abkehr von der Religion des Westens auch immanent verstehbar: Der Aspekt der Anbetung des Göttlichen ist im westlichen Christentum fast völlig verschwunden, die Liturgien in westlichen Kirchen entbehren zudem heute jeglichen dramatischen Effekts; lediglich der Bereich der Mystik scheint heute einen höheren Stellenwert zu besitzen. Die religionsgeschichtlich ohnehin sekundäre Funktion der Wertevermittlung kann heute auch ohne Religion erfolgen. Nach Zeiten, überfrachtet von Religion, ist nun ein anderes Extrem entstanden, obgleich nach wie vor Leben und Tod ständig auf die religiöse Dimension verweisen. Nüchtern betrachtet, handelt es sich also um ein Phänomen in der Geschichte.
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Petra Uphoff (Universität Köln):
Islam: Individualisierung versus Kollektivierung als soziales und politisches Problem

  • Zusammenfassung: Die islamische Ethik stellt die Erfüllung der Gebote Gottes im persönlichen,  gesellschaftlichen und politischen Leben – Bereiche, die nach allgemeiner islamischer Auffassung nicht getrennt sind –  als gemeinschaftliches und gemeinschaftsbildendes Prinzip an vorderste Stelle. Auch im engeren Bereich der religiösen Pflichten sind der individuellen Ausformung aufgrund der starken Formalisierung des Islams enge Grenzen gesetzt; so sind alle fünf Glaubenspflichten – Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten,  Wallfahrt und Almosen – durch Vorschriften durchgängig geregelt. Mystische islamische Richtungen, die wie z.B. die Sufis eine persönliche Gotteserfahrung suchen, werden zwiespältig wahrgenommen:  der Verehrung ihrer durch Volksmassen steht das Mißtrauen der Orthodoxie gegenüber. Gebildete oder reformorientierte Muslime riskieren durch eigene Interpretationen des Korans oder durch alternative Entwürfe für eine islamische offenen Gesellschaft mancherorts den Vorwurf der Blasphemie, Verfolgung und Existenzgefährdung. Häufig werden überkommene gesellschaftliche Normen und traditionelle Moral- und Wertevorstellungen zwar weiterhin formal anerkannt und respektiert, praktisch jedoch mehr oder weniger offen umgangen. Einem extremen oder öffentlichen Individualismus stehen in einigen islamischen Ländern Gesetze entgegen; dies betrifft die v.a. die Bereiche  der Religions-, Meinungs- und Berufsfreiheit und die Gleichberechtigung von Frauen. Für viele Jugendliche in der Diaspora spielt die Religion, neben der Sippenzugehörigkeit, als einigende Kraft eine Rolle, selbst dort, wo sie sich in ihrem äußeren  Auftreten der Mehrheitsgesellschaft aufgeschlossen zeigen. Individualisierung scheint vor allem finanziell, sozial und bildungsbedingt zu sein. Unterprivilegierten verspricht die Einbettung in die traditionsgeprägte, solidarische Religionsgemeinschaft Zugehörigkeit und Sicherheit. Islamisten nutzen diese Bedürfnislage im Nahen Osten, in Asien, Afrika und Europa, um etwa über die finanzielle Förderung von Einzelpersonen oder Familien, einen streng gelebten Islam zu etablieren. Gesellschaftliche Missstände, Fehlen bürgerlicher Freiheiten, Angst vor Restriktionen und Benachteiligungen setzen in vielen islamischen Gesellschaften Pluralismus und öffentlicher Selbstverwirklichung Grenzen. Das kollektive Verständnis und die nach wie vor prägende Rolle des Islam scheinen gesellschaftlich vielerorts weiterhin derart verankert zu sein, dass sie alternative Sicht- und Lebensweisen kaum oder nur langsam beeinflussen. In welchem Maße individuelle Glaubens- und Lebensgestaltung auf das Private begrenzt bleiben oder aber an Einfluss auf die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zunehmen werden, bleibt abzuwarten.
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Elisa Klapheck (Berlin):
Hat das Heiligen eine Zukunft?

  • Zusammenfassung: Von einem Ende der Religion kann man nicht sprechen, denn das Religiöse gehört zum Menschsein; die Krise des Religiösen betrifft nur die institutionalisierte Religion. Einen Ausweg aus dieser Krise bietet die Hebräische Bibel, indem sie mehrere, konkurrierende institutionelle Modelle angesichts unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Realitäten und Erfordernisse bezeugt; so das Modell der hierarchischen Religion mit einem einzigen  zentralen Tempel in Jerusalem und einer strengen religiösen Hierarchie, das dem Individuum nur wenig Raum lässt; dann das Modell einer egalitären Religion, in der alle eine Priesternation bilden durch ihre Teilhabe an der göttlichen Erwählung und durch die Annahme der geoffenbarten Gesetze. Eine hierarchische Religion kämpft mit der Gefahr der Erstarrung, die egalitäre hingegen mit einem strukturellen Autoritätsproblem. Wenn jeder sein eigener Priester ist und alle gleichermaßen zur Priesternation gehören – wer repräsentiert dann die Gemeinschaft und was hält die Gemeinschaft zusammen? Das Modell einer egalitären Religion bietet einen Schlüssel für den Weg aus der Krise der institutionalisierten Religion: die individuelle Mitverantwortung für die Heiligkeit –  konkretisiert in einem unendlichen Regelwerk von Handlungen, die zwischen heilig und profan unterscheiden; Autorität kommt nur demjenigen zu, der anhand von solchen Unterscheidungen sein Leben heiligt. Tora und Talmud enthalten nicht nur Modelle für eine egalitäre oder eine hierarchische Religion, sondern deuten eine dritte Möglichkeit an, eine individuelle Religion. Wenn es in der jüdischen Liturgie heißt „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs“, dann wird die je eigene, unverwechselbare Gotteserfahrung anerkannt, ohne ihre Integration in ein kollektives Gemeinschaftsgebilde unmöglich zu machen. Heute müssen Juden, die die Errungenschaften des Individualismus und der liberalen Gesellschaft nicht aufgeben wollen, das Verhältnis zwischen ihrer individuellen religiösen Erfahrung und der institutionalisierten Religion neu bestimmen. Ausgangspunkt dazu sollte das eigene, individuelle religiöse Erleben sein, Ziel sollte eine egalitäre Religionsauffassung sein, in der jeder sein eigener Priester wird als Teil einer zu vollendenden Priesternation.
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