Thomas Mohrs: Hedonismus leben heißt – verzichten

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Das eigentliche Erbeben des Ich (2014). Jahrestagung der Akademie forum masonicum e.V. in Berlin, Samstag, den 8. November 2014 in Zusammenarbeit mit der Loge Zu den drei Seraphim

Vorbemerkung: Was bedeutet „Gastrosophie“?

Der Begriff „Gastrosophie“ ist gar nicht einmal wirklich „jung“, seine Bedeutung aber sicher nicht allgemein bekannt: Er setzt sich zusammen aus den Begriffen gastēr (griechisch für Magen) und sophia (griechisch für Weisheit). Als Übersetzung für den Begriff „Gastrosophie“ hat sich Lehre von der Weisheit des Essens etabliert. Der Masterstudiengang „Gastrosophische Wissenschaften“ an der Universität Salzburg[ref]Siehe http://www.gastrosophie.at/de/unilehrgang/index.asp[/ref] widmet sich dem Thema Essen multidisziplinär, interdisziplinär, transdisziplinär, also mit ganz vielen Zugängen, womit man versucht, der Komplexität der Thematik gerecht zu werden. Denn wenn man nur ein wenig über das Essen nachdenkt, kommt man schnell darauf, wie viele Bezüge dieses Alltagsphänomen hat, und zwar weit über den Zweck der erforderlichen Nahrungsaufnahme hinaus.

Und was bedeutet „Hedonismus“?

Doch dazu später mehr; einsteigen möchte ich mit dem Begriff „Hedonismus“. Dieser lässt sich wiederum zurückführen auf den griechischen Begriff hedonē für „Lust“. Entsprechend bekommt der Begriff „Hedonismus“ die Bedeutung von „Philosophie der Lust“.

Wenn wir nun den Begriff „Hedonismus“ hören, dann verbinden wir wahrscheinlich damit spontan beispielsweise etwas wie das Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, wo alles im Überfluss vorhanden ist, wo niemand arbeiten muss, wo man nur dem dolce vita frönen kann.

Oder wir verbinden mit dem Begriff „Hedonismus“ andere lust-volle Vorstellungen: eine zünftige Orgie etwa, spätrömische Dekadenz (ein Thema, das man natürlich ebenfalls kritisch diskutieren könnte); die Herrschaften im alten Athen und in Rom haben es durchaus bereits „krachen“ lassen. Platon und Aristoteles haben sich jedenfalls bitterlich darüber beschwert, dass die (adlige) Jugend in Athen jeden Abend ein Symposion, also ein Gelage, veranstaltet hat. Denn dahinter verbarg sich faktisch ein Kampftrinken der Beteiligten, gewissermaßen ein antikes „Koma-Saufen“: Wenn einer seinen Becher gelehrt hatte, mussten alle anderen nachziehen. Religiös verbrämt war diese Praxis durch die These, dass man durch das Trinken in einen dionysischen Zustand gelangt und darin in Kontakt mit der Gottheit kommen kann.

Einer solchen Veranstaltung verdanken wir einen der vielleicht schönsten Texte der Philosophiegeschichte, das „Symposion“ (Gastmahl) von Platon. Darin treffen sich die Jünglinge wie gehabt zum Trinkgelage, aber einer der Anwesenden sagt (sinngemäß): „Mir ist noch so schlecht von gestern, können wir das heute etwas anders machen?“ Der nächste bestätigt: „Mir brummt auch noch der Schädel von gestern, also heute bitte kein Kampftrinken, sondern jeder soll nur so viel trinken, wie er will und verträgt.“ Was aber – stellt sich die Frage – soll man nun anstatt des systematischen Betrinkens machen? Man entscheidet sich für das Philosophieren. Und dann beginnt das Gespräch mit Sokrates über das wahre Wesen der Schönheit, das uns als weltbekannter Text der Philosophiegeschichte überliefert ist.

Wir (zumindest die männlichen Leser) verbinden mit dem Begriff „Hedonismus“ womöglich auch die Lust im Sinne der Aphrodite, also die weibliche Schönheit und ihre sexuelle Attraktivität. Und Leserinnen denken an Adonis als dem männlichen Pendant zur Schönheit der Aphrodite.

Man verbindet mit dem Begriff des Hedonismus vielleicht das Kamasutra oder das Tantra, vielleicht auch die Erinnerung an Höhepunkte der Filmgeschichte wie die berühmte Orgasmusszene in „Harry und Sally“ oder „einschlägige“ Szenen aus einem anderen berühmten Film: „Das große Fressen“ – Hedonismus in Reinstform bzw. in existenzialistischer Übersteigerung.

Die meisten von uns verbinden „Hedonismus“ allenfalls noch mit Bildern von köstlich gedeckten Tafeln oder idyllisch angelegten Wellness-Oasen, aber ich bin mir sicher, dass die meisten den Hedonismus nicht mit dem Bild eines abgemagerten Asketen verbinden, bzw. generell und definitiv nicht mit Enthaltsamkeit, Askese und Verzicht. Weshalb sich natürlich im Hinblick auf meinen Beitragstitel die Frage stellt: „Hedonismus leben heißt – verzichten“ – ist das nicht ein performativer Selbstwiderspruch? Ein hölzernes Eisen, ein schwarzer Schimmel?

Philosophiegeschichtlicher Exkurs: Positionen des Hedonismus

Dieser Frage möchte ich im Folgenden etwas nachgehen. Zunächst möchte ich aber einen kleinen Exkurs in die Philosophiegeschichte machen und einige „Perlen“ vorstellen: Einige Philosophen und ihre Vorstellungen von der hedone und ihrer Bedeutung für die Philosophie und für das menschliche Leben.[ref]Zu den folgenden Angaben siehe: Marcuse, Ludwig: Philosophie des Glücks: Von Hiob bis Freud, Zürich (Diogenes) 1972.[/ref]

Ich fange an mit Aristippos von Kyrene, der das Lust-Prinzip in seiner Philosophie folgendermaßen (sinngemäß) auf den Punkt gebracht hat: „Das höchste Gut ist die Lust. Und zwar jetzt und hier! Die Lust des Augenblicks, kein Aufschub, kein Vertagen! Jede Lust, die du leben kannst, die sich dir anbietet – greif zu, genieße sie!“

Und so ist der Sinn des Lebens für Aristipp die Summe bzw. die Bilanz der lustvollen Augenblicke, die man im Leben angesammelt hat. Er hat auch weitere interessante Thesen vertreten wie etwa die: „Besser das Geld geht durch mich zugrunde als umgekehrt“. Er war aber keiner, der von der Lust getrieben war, sondern er verstand es in diesem Sinne: „Ich besitze die Lust, ohne von ihr besessen zu werden“. Das ist ein feiner Unterschied.

Ein weiterer berühmter (und berüchtigter) Hedonist war Jahrhunderte später der Marquis de Sade, der mit einigen Schriften Furore gemacht resp. Skandale verursacht hat. So taucht z. B. in seinem Werk zu den ungleichen Schwestern Justine und Juliette dieser Satz auf: „Laster ergötzt, die Tugend aber erschöpft.“ Das Laster zu genießen war – neben dem Protest gegen die verklemmten Sitten seiner Zeit und der harschen Kirchenkritik – der Inbegriff seiner Schriften, wobei es in den pornografischen Passagen nicht selten brutal und grausam zugeht – „sadistisch“ eben. Was er sich konkret darunter vorstellte, kommt u.a. in folgendem Zitat zum Ausdruck: „Ich stelle mir die Stadtmauer von Paris vor als Wall kopulierender Leiber.“

Andere sahen das freilich bereits in der Antike anders, standen der Lust deutlich kritischer gegenüber. Aristoteles als ein Repräsentant dieser zumindest nicht sehr lustfreundlichen Philosophie hat in seiner Nikomachischen Ethik[ref]Aristoteles: Nikomachische Ethik, 5te Auflage, München (dtv) 1972.[/ref] folgende Position vertreten: Der lustbetonte Lebensstil des bios apolaustikos ist tierisch, triebhaft, des Menschen unwürdig. Des Menschen würdig ist dagegen ein anderes Leben, ein Leben gemäß der Vernunft, das sich der Seele widmet, die im Gegensatz zum vergänglichen Körper unsterblich ist. Aber dieses Leben gemäß der Vernunft kann nur dann wahrhaft gelingen und zur „eudaimonia“, der „Glückseligkeit“ führen, wenn es ein tugendhaftes Leben ist. Aber weil er sieht, dass ein lustloses Leben auch kein wirklich glückliches Leben sein kann, kommt Aristoteles im Hinblick auf die Lust zu dem Ergebnis: „Glückselig ist, wer mit äußeren Gütern mäßig bedacht maßvoll gelebt hat.“[ref]Ebd., S. 301 (1179a10).[/ref]

Die aristotelische Ethik ist überhaupt wesentlich gekennzeichnet durch das Maß bzw. durch das berühmte „mesotes“-Schema, nach dem die Tugend das „mittlere“ Verhalten zwischen zwei Extremen ist – so ist z. B. die Tugend der Tapferkeit als Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit definiert. Aber das ist nicht so zu verstehen, dass die Tugend immer exakt in der arithmetischen Mitte zwischen den Extrempolen liegen muss. Ganz im Gegenteil liegt nach Aristoteles die Tapferkeit generell eher näher bei der Tollkühnheit als bei der Feigheit, aber es kann eben auch Situationen geben, in denen es auch ethisch angemessener ist, sich feige zu verhalten. Daher ist die aristotelische Tugend hochgradig individualistisch, denn im Grunde muss jede und jeder in einer ethisch relevanten Situation seine Verstandestugenden (wie Klugheit, Vernunft oder Weisheit) betätigen und für sich bestimmen, wo die tugendhafte „Mitte“ jeweils liegt.

Schauen wir uns nun eine der wichtigsten Figuren der Geschichte des Hedonismus an: Epikur. Was für ihn Lust bedeutet bzw. welchen Stellenwert sie in seiner Philosophie hatte, wird aus diesem Zitat deutlich:

„Ich wüsste nicht, was ich mir überhaupt als Gut vorstellen kann, wenn ich mir die Lust am Essen und Trinken wegdenke, wenn ich die Liebesgenüsse verabschiede und wenn ich nicht mehr meine Freude habe soll an dem Anhören von Musik und dem Anschauen schöner Kunstgestalten.“ [ref]Epikur, zitiert nach Lemke, Harald: Epikurs Gemüsegarten und seine philosophischen Früchte, in: Epikur – Journal für Gastrosophie, 01/2010, unter: http://www.epikur-journal.at/de/ausgabe/detail.asp?id=84&art=Artikel&tit=Epikurs%2520Gemuesegarten%2520und%2520seine%2520philosophischen%2520Fruechte[/ref]

Auch hier steht die sinnliche Lust im Zentrum der Philosophie. Und insbesondere gilt dies für die Lust des Essens:

„Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens; selbst Weisheit und alles, was noch über sie hinausgeht, steht in Beziehung zu ihr.“

Kern der hedonistischen Philosophie Epikurs ist das Essen. Epikur ist sicherlich einer der am meisten denunzierten Philosophen der gesamten Philosophiegeschichte. Ihm wurde vor allem aus der geistlichen Ecke u.a. vorgeworfen, dass er sich dreimal am Tag so vollgefressen habe, dass er sich übergeben musste, nur damit er sich wieder vollfressen konnte. Das folgende Zitat verdeutlicht aber, dass das wohl so nicht richtig gewesen ist:

„Wenn ich nun erkläre, dass die hedone das Ziel des Lebens ist, dann meine ich damit nicht die Lüste der Schlemmer noch die Lüste, die im Genießen selbst liegen, […] Denn nicht häufige Trinkgelage und festlichen Schmausen, […] noch der Genuß von leckeren Fischen und was sonst eine üppige Tafel bietet, schafft ein lustvolles Leben.“

Denn, so Epikur, das Ausleben der sinnlichen Lust hat häufig einen negativen, durch Leiden bestimmten Nachklang – der Kater nach dem Rausch hat viele Gestalten. Epikur hat zwar die Lust befürwortet, aber immer mit Bedacht. Daher ist das Vermeidung der Unlust für ihn sogar wichtiger als das Leben der Lust, zumindest als das übermäßige Leben der Lust. Und in einem weiteren Zitat kommt zum Ausdruck, welche Tugend für ihn die höchste ist:

„Willst Du einen Menschen glücklich machen, so vermehre nicht seine Habe, sondern verringere seine Bedürfnisse.“

Für Epikur spielt also – neben der Freundschaft – die Tugend der Genügsamkeit eine sehr große, wesentliche Rolle, wenn es darum geht, ein gutes, zufriedenes, glückliches Leben zu führen.

Schauen wir uns im Rahmen unserer „Perlensuche“ noch den englischen Philosophen und Wirtschaftstheoretiker John Stuart Mill an, einen der wichtigsten Vertreter der Philosophie des Utilitarismus, also des Nutzens (lat. „utilitas“). Gut ist demnach das, was in der Summe nützlich ist, was den meisten Menschen einen Nutzen, eine Luststeigerung bzw. eine Unlustreduktion bringt. Maßstab des ethisch Guten ist der „größtmögliche Nutzen der größtmöglichen Zahl“.[ref]Mill, John Stuart: Der Utilitarismus, Stuttgart (Reclam) 1976, 21.[/ref]

Aber Lust ist nicht gleich Lust. Es gibt die niederen, eher tierhaften, instinktgetriebenen Lüste und die höheren Lüste, etwa eine Oper zu hören, sich ein naturwissenschaftliches Werk zu vertiefen oder ein philosophisches Buch zu lesen. Mill entwickelt also – durchaus ähnlich wie Aristoteles – einen qualitativen Hedonismus, der auf eine Formel gebracht sagt: „Besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedenes Schwein.“[ref]Ebd., 18.[/ref] Was jedoch die „niederen“ und die „höheren“ Lüste sind, können nach Mill diejenigen entscheiden, die beide Lust-Kategorien kennen und daher zu einer Beurteilung in der Lage sind – was im Zweifel natürlich nur gebildete Menschen wie er selbst sein konnten.

Als Repräsentant des Zentrums für Gastrosophie möchte ich schließlich kurz auf eine weitere Schrift eingehen: Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel[ref]Vaerst, Eugen v.: Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel, Leipzig 1851, Neuausgabe München (Rogner und Bernhard) 1979.[/ref]von Eugen Baron v. Vaerst, erschienen 1851. In der Einleitung zu diesem ansonsten eher unbedeutenden gastrosophischen Werk unterscheidet van Vaerst den Gourmand – den Vielfraß, der die reine Idoladrie, die wahllose Lust des vollen Bauches liebt – vom Gourmet, der immer nur das Feinste und Teuerste haben will. Und von diesem unterscheidet er wiederum den Gastrosoph, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er beim Essen das Beste wählt, allerdings unter Berücksichtigung der Gesundheit und der Sittlichkeit.

Die Begriffe der Gesundheit und Sittlichkeit weisen aber für uns heute auf einen weiteren Begriff hin: den der Ethik.

Die ethische Dimension der „Gastrosophie“, durchdekliniert am Thema „Fleisch“

Die Gastrosophie ist gemäß der Definition die Lehre von der Weisheit des Essens mit ethischen Bezügen und Hintergründen. Genau deshalb stellt sich aus gastrosophischer Sicht die Frage: Gibt es Nahrungsmittel, auf die zu verzichten gastrosophisch geboten ist? Oder anders formuliert: Gibt es so etwas wie sinnvolle gastrosophisch-hedonistische Askese? Einerseits ist man als Gastrosoph unzweifelhaft – wie es Plutarch für sich geltend gemacht hat – Epicuri de grege porcus, ein „Schweinchen aus der Herde des Epikur“, weshalb ich gerne bekenne, ebenfalls ein solches „Schweinchen“ zu sein, nämlich ein Genussmensch. Die Frage nach der hedonistischen Askese halte ich aber gleichwohl nicht für unsinnig, weshalb ich sie an einem konkreten Beispiel durchdeklinieren möchte, und das ist das Beispiel „Fleisch“. Ich bin kein Peta-Aktivist, auch nicht Mitglied bei „Vier Pfoten“ oder bei einem anderen Tierschutzverein. Ich verstehe mich nicht einmal als besonders großen Tierliebhaber. Es geht mir, wenn ich über Fleisch rede, primär um einen bestimmten Aspekt, nämlich den der industriellen Tierhaltung und Fleisch„produktion“.

Ich möchte aber dennoch ganz kurz auf die philosophische Grundsatzfrage eingehen: Dürfen wir Tiere essen? Jeder gastrosophisch oder auch jeder humanistisch eingestellte Mensch sollte sich wohl diese bzw. dieser Frage irgendwann mal stellen. Weil ich für niemand anderen diese Antwort geben, sie anderen nicht vorschreiben oder aufzwingen kann, gebe ich sie für mich (natürlich in der Hoffnung, dass sie auch für andere nachvollziehbar sein mag). Und für mich lautet die Antwort auf diese Grundsatzfrage: Ich weiß es nicht. Ich grübele schon seit etlichen Jahren darüber nach, aber ich komme zu keinem klaren Ergebnis, außer zu dem, dass die Antwort wohl stets eine Frage der Perspektive, des Welthintergrundes ist. Eine absolute, verallgemeinerbare Antwort auf diese Frage scheint (!) mir nicht möglich. Aus atheistisch-existentialistischer Sicht, wie ich sie vertrete, gibt es definitiv kein „Recht“ dazu, Tiere zu töten und zu essen, denn wer sollte dieses Recht gestiftet haben, was sollte sein Ursprung sein? Dummerweise gibt es aber ebenso definitiv auch kein Unrecht. Ich glaube, diese Kategorien von „Recht“ und „Unrecht“ greifen auf dieser Ebene nicht, jedenfalls nicht in einem philosophischen Kontext, der ohne Recht setzende Gottheiten oder sonstige naturgegebene Rechte auskommt. Was es gibt, ist die reine Faktizität. Wir tun es – das Töten und Essen von Tieren – und wir tun es seit Menschengedenken (was natürlich als Begründung eines „Rechts“ ebenfalls nicht hinreichend ist, das wäre ein reichlich banaler naturalistischer Kurzschluss). Ich glaube aber dennoch, dass es eine Reihe von guten „diesseits“-Argumente[ref]Vgl. Mohrs, Thomas: Fleischeslast oder Fleischeslust, in: diesseits, 25. Jg, 4/2011, S. 9-12.[/ref] gibt, also diesseits von allen metaphysischen Bezügen, die gegen den bewusst-losen und unmäßigen Fleischkonsum sprechen.

An dieser Stelle mache ich nur einen tierethischen Gesichtspunkt geltend (echte Tierethiker/innen könnten zahllose ergänzen): Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass über 90% des in Deutschland und auch in Österreich gehandelten Fleisches aus industrieller Produktion stammt. Und artgerechte Massentierhaltung gibt es nicht. Man muss aber nicht mal ein großer Tierfreund sein, um einzusehen, dass Tiere keine Industrierohlinge sind. Es sind lebendige Wessen. Leidfähige, schmerzempfindliche Lebewesen mit artspezifischen Bedürfnissen. Und industrielle Tierhaltung und Fleisch„produktion“ halte ich für organisierte und (in aller Regel) himmelschreiende Tierquälerei. Eine Kennzahl dazu: 270.000 Hühner/Hähnchen werden im größten „Wiesenhof“-Schlachthof in Deutschland geschlachtet, und zwar pro Tag! (Geplant sind Anlagen mit über 340.000 Schlachtungen täglich.) Es handelt sich dabei um einen völlig durchindustrialisierten Prozess, anders wäre das Schlachten und Weiterverarbeiten von 270.000 Tieren an einem einzigen Tag in einer einzigen Anlage auch gar nicht möglich.

Diese Tiere mussten natürlich auch fressen, sie mussten bis zur „Schlachtreife“ gemästet werden. Der Münchener Agrarwissenschaftler Josef Reichholf schreibt in einem seiner Bücher („Der Tanz um das goldene Kalb“[ref]Reichholf, Josef: Der Tanz um das goldene Kalb: Der Ökokolonialismus Europas, Berlin (Wagenbach) 2006.[/ref]): „Wenn die Deutschland gemästeten Tiere von den in Deutschland produzierten Futtermitteln ernährt werden müssten, müsste Deutschland viermal so groß sein wie es ist.“ Ist es aber nicht. Also stellt sich die Frage, wo die Futtermittel her kommen. 90 Prozent des in Deutschland verfütterten Sojas stammen z. B. von riesigen Monokulturen in Südamerika, das meiste davon aus Brasilien. Ich möchte einmal andeuten, welche Dimensionen solche Monokulturen in Brasilien haben. Auf einem Foto in einem brasilianischen Landwirtschaftsmagazin sieht man 31 riesige Mähdrescher, die nebeneinander in einer keilförmigen Formation ein Feld durchpflügen. Der Titel des Beitrages lautete: „Die Zivilisation des Feldes“. Wie diese Felder „zivilisiert“ wurden, wissen wir alle eigentlich, nämlich durch Brandrodungen in riesigem Maßstab. Zwischen 1988 und 2011 wurden im brasilianischen Amazonasgebiet ca. 400.000 Quadratkilometer Regenwald gerodet.[ref]Siehe https://www.google.at/search?q=Rodungen+Regenwald+brasilien+statistik&tbm=ischimgil=JbAFTlCfZ3gWGM%253A%253BXbpPd0KWqSL4eM%253Bhttp%25253A%25252F%25252Famazonasportal.de%25252Fnachrichten%25252Fbrasilien%25252Fbrasilien-bescheinigt-amazonas-niedrigste-abholzungsrate-in-24-jahren-2367%25252F&source=iu&pf=m&fir=JbAFTlCfZ3gWGM%253A%252CXbpPd0KWqSL4eM%252C_&usg=__cm2FJ9q2ADQIBAppMYp1j9sMiaU%3D&biw=1093&bih=452 .[/ref] Das ist in etwa die Fläche von Frankreich, Portugal und Spanien zusammengenommen. Bei diesen gigantischen Brandrodungen wurden/werden natürlich sehr große Mengen CO2 freigesetzt. Zu bedenken sind dabei auch die enormen Biodiversitätsverluste, zumal im Regenwald eine besonders hohe Biodiversitätsdichte in vielen kleinen Ökosystemen zu finden ist (bzw. war).

Brasilien ist einer der größten Soja-Exporteure und einer der größten Rindfleisch-Exporteure der Welt. Gleichzeitig hungern in Brasilien über 13 Millionen Menschen.[ref]Siehe http://de.wfp.org/artikel/brasilien-ein-champion-im-kampf-gegen-hunger .[/ref] Und das sind nur die Schätzungen/Berechnungen der Regierung, die Opposition geht von dem Doppelten aus. Gleichzeitig hat sich seit 1970 die Wildtierpopulation weltweit halbiert, berichtet der WWF („Life Planet Report“[ref]Siehe http://derstandard.at/2000006215563/52-Prozent-Artenverlust-in-nur-40-Jahren .[/ref]). Auch die Weltressourcen werden rascher verbraucht als sie erneuert werden können – der „Earth Overshoot Day“[ref]Siehe http://www.footprintnetwork.org/de/index.php/GFN/page/earth_overshoot_day/ .[/ref], also der Tag, an dem wir die Ressourcen verbraucht haben, die eigentlich für ein ganzes Jahr zur Verfügung stehen, war 2014 bereits am 19. August erreicht. Im ersten Berechnungsjahr, 1987, war es noch der 19. Dezember gewesen.

Exkurs: Verdient der Mensch die Bezeichnung „homo sapiens“?

An dieser Stelle möchte ich eine etwas provokante Frage einschieben. Darf der Mensch dann noch als homo sapiens gelten? Michael Schmidt-Salomon schlägt in seinem Buch „Keine Macht den Doofen“[ref]Schmidt-Salomon, Michael: Keine Macht den Doofen! Eine Streitschrift, München (Piper) 2012.[/ref] vor, die Gattungsbezeichnung des Menschen homo sapiens zu ersetzen durch homo demens. Wenn man sich die Weltsojaproduktion von 1997 bis heute ansieht, dann stellt man fest, dass sie um das 17-fache gesteigert wurde. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um gv-Soja, also genmanipuliertes Soja, dank dessen die Erträge massiv gesteigert werden konnten. Wohin geht aber die Produktion? Sie dient nicht der wachsenden Weltbevölkerung, jedenfalls nicht primär, sondern mindestens 50 Prozent (der Weltagrarbericht[ref]Siehe www.weltagrarbericht.de .[/ref] geht von eher 70 Prozent aus), gehen in die weltweite Tiermast.[ref]Siehe https://www.abenteuer-regenwald.de/bedrohungen/fleisch .[/ref] Die weltweite Fleischproduktion hat sich seit 1960 bis heute ungefähr verfünffacht.[ref]Siehe http://www.google.at/imgres?imgurl=http://www.vegetarismus.ch/heft/98-3/images/weltweit.gif&imgrefurl=http://www.vegetarismus.ch/heft/98-3/zahlen.htm&h=324&w=364&tbnid=Ji8dFl3TCkltoM:&zoom=1&docid=PQc75EsSDZFBYM&ei=e828VNGNApL9aPmKgOAE&tbm=isch&ved=0CCoQMygLMAs[/ref] Die Food and Agricultural Organisation der Vereinten Nationen geht davon, dass sich der Weltfleischbedarf bis 2050 noch einmal auf über 500 Millionen Tonnen verdoppeln wird.[ref]Siehe http://www.fao.org/ag/againfo/themes/en/meat/home.html .[/ref] Was das für den Futtermittelbedarf und dessen Anbau bedeutet, dürfte klar sein. Konkretisiert an einem Beispiel: 2010 wurden nach FAO-Schätzung weltweit ca. 30 Milliarden Masthähnchen gemästet und geschlachtet, damals bei maximal 35 Tages Aufzucht. (Durch Futteroptimierung und spezielle Züchtungen liegt die Aufzuchtzeit mittlerweile in den „Turbo“-Mastanlagen bei 28-29 Tagen von Schlüpfen bist zur „Schlachtreife“.) Dies entspricht einer Menge von ca. 60 Milliarden Kilo Getreide, denn für die Produktion von einem Kilo Hähnchenfleisch benötigt man ca. 2 Kilo Getreide, beim Schwein sind es – je nach Züchtung – zwischen 3 und 5 Kilo, bei Rind zwischen 7 und 14 Kilo.[ref]Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Tierproduktion#Bedeutung_f.C3.BCr_die_Weltern.C3.A4hrung .[/ref] So plakativ dieser Satz auch sein mag, er hat seine Berechtigung: „Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen.“  [ref]Siehe http://www.google.at/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0CCEQFjAA&url=http%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fspiegel%2Fprint%2Fd-13527742.html&ei=FNG8VMCfO8WqUbKpgkA&usg=AFQjCNHhJIVW0kT56-NgJxCAWvBI4C4EkA&sig2=onRG0iNmkrNLPR4hDgH95g&bvm=bv.83829542,d.d24[/ref] Und das gilt auch für den nicht unumstrittenen Jean Ziegler, wenn er argumentiert: In einer Welt, in der die Weltlandwirtschaft Nahrungsmittel in einer Größenordnung produziert, dass eigentlich ca. 12 Milliarden Menschen ernährt werden könnten, dass aber in einer solchen Welt aber 800 Millionen Menschen hungern müssen, ist ein Skandal. Und Ziegler bringt dies – aus formaljuristischer Sicht sicher überspitzt – auf den Punkt: „Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“[ref]Siehe http://www.google.at/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=3&cad=rja&uact=8&ved=0CC0QtwIwAg&url=http%3A%2F%2Fwww.youtube.com%2Fwatch%3Fv%3DvKd5yGzQhzE&ei=ZNG8VM2BL4byUN6Ug9gB&usg=AFQjCNH9NZg73duQ4MqOZRtS8sRnsd2ESg&sig2=kfzgfpRlf5bz7gk3uLrt1Q&bvm=bv.83829542,d.d24[/ref] Für diesen Tod gibt es keine objektive Notwendigkeit, keine „Fatalität“, wie Ziegler es nennt.

Die (industrielle) Viehzucht verursacht nachweislich mindestens 18 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen.[ref]Die Angaben schwanken zwischen 18 % (FAO) bis zu 51 % (WWI). Siehe http://reset.org/blog/fleisch-und-klima-wie-wird-unsere-umwelt-von-der-viehzucht-beeinflusst .[/ref] Das ist mehr als die Emissionen des gesamten weltweiten Verkehrs.

Konkretisiert am Beispiel Methan: Dieses im Hinblick auf die Klima-Problematik hochwirksame Gas wird von Wiederkäuern (also vornehmlich Rindern) bei der Verdauung produziert und „gerülpst“. Aber zum einen würden Rinder das in geringerem Maße tun, würden sie sich artgerecht auf der Weide von Gras und Kräutern ernähren; sie wären dann sogar in der Ökobilanz positiv. Anita Idel hat insofern völlig recht: „Die Kuh ist kein Klimakiller“.[ref]Idel, Anita: Die Kuh ist kein Klimakiller. Wie die Agrarindustrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun können, Marburg (Metropolis) 2010.[/ref] Aber die artfremde Ernährung von Paarhufern in der industriellen Massenproduktion mit Soja führt eben zu dieser erhöhten Methanemission. (Wobei, am Rande bemerkt, in Sachen „Klima“ ein noch weit größeres Problem das Lachgas ist, das beim Ausbringen von Kunstdünger auf die Getreide-Monokulturen freigesetzt wird – Getreide freilich, das dann zu mehr als einem Drittel an „Nutztiere“ verfüttert wird.)

Ein weiteres gravierendes Problem: Wasser! Weltweit verbraucht die Viehzucht enorme Mengen des uns zur Verfügung stehenden Trinkwassers, je nach Quelle zwischen 8 und 10 Prozent.[ref]Zur FAO-Schätzung siehe: ftp://ftp.fao.org/docrep/fao/010/a0701e/a0701e.pdf , S. 167 f.[/ref] Der „Fleischatlas“ 2014[ref]Siehe http://www.boell.de/sites/default/files/fleischatlas2014_kommentierbar_1.pdf#page=19 .[/ref] geht von ca. 60 Milliarden (also 60.000.000.000) Schlachttieren weltweit aus, die alle trinken müssen, für die Futtermittel produziert werden müssen, die Raum brauchen, die verdauen. Dazu noch ein paar Daten: Für die Produktion von einem Kilo Hühnerfleisch bedarf es ca. 3900 Liter Wasser, für ein Kilo Schweinefleisch ca. 4800 Liter und für ein Kilo Rindfleisch ca. 15500 Liter Wasser.[ref]Siehe http://virtuelles-wasser.de/fleisch.html .[/ref] Dies wiederum vor dem Hintergrund, dass über eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben und verschmutztes Trinkwasser heute bereits die Krankheitsursache Nummer Eins weltweit ist.

Wo wir beim Thema Wasser sind: In der Süddeutschen Zeitung vom 12.4.2014 wird im Artikel „Es stinkt zum Himmel“[ref]Siehe http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/belastetes-trinkwasser-in-deutschland-es-stinkt-zum-himmel-1.1935790 .[/ref] ein Überblick darüber gegeben, wo die Grund- und Trinkwasserqualität in Deutschland aufgrund der hohen Nitratbelastung am schlechtesten ist. Das ist genau in jenen Regionen der Fall, wo sich die großen Tierfabriken ballen.

Ein weiterer Aspekt, der mit der industriellen Tierhaltung zusammenhängt, ist das sogenannte „Land Grabbing“[ref]Siehe http://www.fairtrade.at/fileadmin/user_upload/PDFs/04_Suedwind_Studie_LandGrabbing_Fairtrade.pdf .[/ref]: Länder wie China, aber auch private Investoren kaufen oder pachten im großen Stil Agrarnutzungsflächen (vornehmlich) in Afrika, um dort wiederum Soja und Mais anzubauen für die Tiermast in China, wo der Fleischbedarf am schnellsten steigt. Nur ca. 36 Prozent der Landfläche der Welt sind agrarisch nutzbar[ref]Siehe http://www.factfish.com/de/statistik/landwirtschaftliche%20nutzfl%C3%A4che%20der%20landfl%C3%A4che .[/ref] (d. h. nicht nur für die Landwirtschaft, sondern vor allem auch als Weidefläche) und jährlich geht von dieser eine Fläche von der Größe der Schweiz durch Überdüngung, Bodendegradation, Überweidung, Desertifikation, Versiegelung usw. verloren.[ref]Siehe http://www.desertifikation.de/fakten_degradation.html , http://de.wikipedia.org/wiki/Bodendegradation[/ref]

In einem ganz aktuellen Artikel aus „DIE WELT“[ref]Siehe http://www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article115177291/Bis-zu-70-Prozent-der-Aecker-in-China-verseucht.html .[/ref] zu China: Bis zu 70 Prozent der Böden sind dort eigentlich ruiniert aufgrund von Pestizidbelastungen, d. h. man muss die Nahrungsmittel irgendwo anders anbauen oder als Importware einkaufen. Dambisa Moyo, eine aus Sambia stammende Ökonomin, Harvard-Professorin, die bei Goldman-Sachs und der Weltbank gearbeitet und seit einigen Jahren als Publizistin tätig ist, wurde mit ihrem Erstlingswerk „Dead Aid – Entwicklungshilfe tötet“ bekannt. In ihrem zweiten Buch „Winner take all. China’s Race for Ressources and What It Means for the World“[ref]Moyo, Dambisa: Winner Take all. China’s Race for Ressources and What It Means for the World, New York (basic books), 2012.[/ref] aus dem Jahr 2012 dokumentiert sie Chinas Einkaufstour durch die Welt. Unter anderem hat China nach den Recherchen von Moyo in Peru einen ganzen Berg gekauft, über 4000 Meter hoch, weil dort eines der größten Kupfervorkommen der Welt vermutet wird. Und mit dem Kauf des Berges hat sich China natürlich auch die Schürfrechte gesichert. Aber was China eben auch in großem Maßstab betreibt, ist der Ankauf bzw. die langfristige Pacht von landwirtschaftlichen Nutzflächen (insbesondere in Afrika).

Wenn aber auf der einen Seite Ressourcen wie Trinkwasser und fruchtbarer Boden knapper und knapper werden, auf der anderen Seite aber der Bedarf aufgrund der weiter wachsenden Weltbevölkerung und dem weltweit exponentiell ansteigenden Fleischkonsum steigt, dann greift eine Logik, die bereits Platon in seiner „Politeia“ argumentativ durchdekliniert hat: Es droht dann ein Krieg um die knapp werdenden Ressourcen Wasser, Nahrungsmittel und Ackerboden.

An dieser Stelle möchte ich auf einen Bericht hinweisen, der im Herbst 2013 erschienen ist, herausgegeben von der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), also sozusagen der Handelsbehörde der Vereinten Nationen, die sicherlich nicht im Verdacht steht, wirtschaftsfeindlich zu sein. Dieser Bericht trägt den Titel „Wake up before it is too late. Make agriculture truly sustainable now for food security in a changing climate“.[ref]Siehe http://unctad.org/en/PublicationsLibrary/ditcted2012d3_en.pdf .[/ref] In ihm werden die zentralen Botschaften des Weltagrarberichts nicht nur sehr nachdrücklich bestätigt, sondern in geradezu alarmistischer Form zugespitzt, und ich finde es durchaus bemerkenswert, wenn ein solcher Bericht mit einer derart klaren und eindeutigen Kritik am System der globalisierten Agro-Industrie von einer Handelbehörde publiziert wird.

Das Fleisch und die Gesundheit

Ich komme abschließend noch zum Stichwort „Gesundheit“. Statistisch lässt sich nachweisen, dass seit der Umstellung auf industrialisierte Nahrungsmittelproduktion die Zahl der ernährungsbedingten Zivilisationskrankheiten (resp. „Zuvielisationskrankheiten“) relativ rasant angestiegen ist: Adipositas, Diabetes melitus II, zum Teil schon bei Kindern, Allergien, Arteriosklerose, bestimmte Krebsarten usw., aber auch zerebrale Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson, Zunahme von Schlaganfällen.[ref]Siehe z. B. http://www.gesundheits-lexikon.com/Ernaehrung-Diaeten/Lebensmittelqualitaet-/Industrielle-Nahrungsmittelproduktion-und-Lebensmittelqualitaet.html .[/ref] Die wissenschaftlich harten Beweise mögen noch fehlen, dass hier ein direkter Zusammenhang besteht, aber die Indizien sprechen eindeutig dafür. Ebenfalls in Zusammenhang mit der Industrialisierung der Nahrungsproduktion steht die nicht abreißende Kette von Lebensmittelskandalen, aber auch die steigende Gefahr von Zoonosen und Pandemien. Denn Hühner und Schweine sind für ähnliche Erreger anfällig wie Menschen. Und die großen Mastanlagen sind nicht umsonst Hochsicherheitstrakte. Zum einen um zu vermeiden, dass Keime hineingelangen, die die überzüchteten und degenerierten Tiere befallen könnten, zum anderen aber auch um zu vermeiden, dass Keime hinausgelangen, die für uns Menschen gefährlich werden könnten. In diesem Zusammenhang möchte ich verweisen auf einen Bericht der Weltgesundheitsbehörde (WHO) aus dem Frühjahr 2014. Die Schlagzeile dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30.04.2014 lautete: „Das globale Antibiotika-Desaster“.[ref]Siehe http://www.faz.net/aktuell/wissen/who-bericht-das-globale-antibiotika-desaster-12917927.html .[/ref] Keime werden immer schneller resistent, und diese Resistenz entwickelt sich eben zu einem großen Teil in den Masttieranlagen, in denen z. T. prophylaktisch, z. T. mit medizinischer Indikation Antibiotika in großem Maßstab verabreicht werden. Diese Verabreichung von Antibiotika hat zudem den „angenehmen“ Nebeneffekt, dass die Tiere noch schneller Fleisch ansetzen; Antibiotika sind also Mastbeschleuniger. Und wenn dann – so der WHO-Bericht – die Gülle aus den Mastanlagen auf Äcker und Felder ausgebracht wird, gelangen auch die resistenten Keime in die Umwelt.

Fazit: Hedonistische Askese ist Gebot der praktischen gastrosophischen Vernunft

Ich komme also als „Schweinchen in der Herde Epikurs“ zu meinem Fazit: Hedonistische Askese ist zumindest im Hinblick auf Massentierhaltung und die industrielle Fleischproduktion kein Widerspruch in sich, sondern ein wohl begründetes Gebot der praktischen gastrosophischen Vernunft. Sie ist – um es mit einem anderen berühmten Philosophen, nämlich Immanuel Kant, auszudrücken – Ausdruck des Respekts vor der Würde der Menschheit in der eigenen Person. Denn die Praxis der weltweiten industriellen Fleischproduktion hängt in vielfältiger Form und vielerorts zusammen mit der Verletzung von Menschenrechten – durchaus auch in unseren Breiten, wenn man etwa an die Arbeitsbedingungen der „Gastarbeiter“ in Schlachtfabriken denkt.[ref]Siehe z. B. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/lebensmittel/arbeitsbedingungen-auf-schlachthoefen-das-billige-fleisch-hat-einen-preis-12148647.html .[/ref]

An dieser Stelle stellt sich freilich die Frage, ob sich der gastrosophische Hedonismus – eben weil er „Verzicht“ fordert – nicht unbeliebt und als Ethik damit praktisch unwirksam macht. Gegen diese rhetorische Allzweckwaffe gegen jegliche normative Ethik möchte ich mit Niko Paech, dem Hauptvertreter der Postwachstumsökonomie[ref]Paech, Niko: Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München (oekom) 2012.[/ref], eine Gegenfrage stellen: „Warum soll die Interpretationshoheit jenen überlassen bleiben, die Verzicht fortwährend als Kampfbegriff instrumentalisieren?“ Wieso wird „Verzicht“ reflexartig als etwas Negatives, etwas Schlechtes bewertet? Kann man dies nicht auch positiv sehen?

Zudem sei an dieser Stelle der Hinweis auf die häufig übersehene Normativitätsdialektik gestattet: Was legitimiert die, die meinen, dass man niemanden zum Verzicht verpflichten darf, andere zu verpflichten, darauf zu verzichten? Oder in einer anderen Version: Wer behauptet, man dürfe anderen seine Werte nicht überstülpen, stülpt anderen seine Werte über. Wer „man darf nicht“ sagt, tut genau das, was er anderen untersagt.

Schließen möchte ich mit einigen (hoffentlich mehr oder weniger provokanten) Thesen:

  • Essen ist heute keine reine Privatsache mehr, sondern immer ein statement, ein politischer Akt. Oder mit Jonathan Safran Foer: „Sobald wir unsere Gabeln heben, beziehen wir Position.“ Wir tun es faktisch, jedes „Mahl“, ob uns dies passt oder nicht. Dies ist für mich so etwas wie der Kernsatz in Foers Bestseller „Eating Animals“.
  • Aus gastrosophischer Sicht und auch aus humanistischer Sicht ist Fleisch aus Massentierhaltung kein Genuss. Oder, um dies noch zuzuspitzen: Es ist ungenießbar! Damit sind wir wieder beim Genuss gelandet und damit bei Epikur. Aus seinem berühmten Brief an Menoikeus hier noch ein sehr schönes Zitat: „Schicke mir ein Töpfchen mit Käse, damit ich, wenn ich Lust habe, prächtig speisen kann.“
  • Bewusster Verzicht im Einklang mit bewusstem verantwortlichem Genuss ist im Grunde genommen gar kein Verzicht, sondern gesteigerter Genuss.
  • Weniger ist mehr! Der Ausstieg aus der konsumistischen „Zuvielisation“ bedeutet nicht Verzicht, sondern – gerade auch im Kontext der Ernährung – Befreiung.

In diesem Sinne hoffe ich, dass wir durch besseres Essen im Mehrsinne des Wortes die Welt genussvoll verbessern können.

 

Weitere Literatur (kleine Auswahl)

Baranzke, Heike u. a. (Hg.): Leben – Töten – Essen. Anthropologische Dimensionen, Stuttgart Leipzig (Hirzel) 2000.

Bommert, Wilfried: Kein Brot für die Welt. Die Zukunft der Welternährung, München (Riemann) 2009.

Busse, Tanja: Die Ernährungsdiktatur: Warum wir nicht länger essen dürfen, was uns die Industrie auftischt, München (Karl Blessing) 2010.

Donaldson, Sue & Kymlicka, Will: Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2013.

Foer, Jonathan F.: Tier essen, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2010.

Goetschel, Antoine F.: Tiere klagen an, Frankfurt/Main (Scherz) 2012.

Grabolle, Andreas: Kein Fleischt macht glücklich. Mit gutem Gefühl essen und genießen, München (Goldmann) 2012.

Lemke, Harald: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie, Berlin (Akademie Verlag) 2007.

Lemke, Harald: Politik des Essens: Wovon die Welt von morgen lebt, Bielefeld (Transcript) 2012.

Löwenstein, Felix zu: Food Crash. Wir werden uns ökologisch ernähren oder gar nicht mehr, München (Pattloch) 2011.

Radisch, Iris & Rathgeb, Eberhard (Hg.): Wir haben es satt! Warum Tiere keine Lebensmittel sind, St. Pölten – Salzburg (Residenz) 2011.

Schlatzer, Martin: Tierproduktion und Klimawandel, 2. Aufl., Wien (LIT) 2011.

Sezgin, Hilal: Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen, München (C. H. Beck) 2014.

Voget-Kleschin, Lieske u. a. (Hg.): Nachhaltige Lebensstile. Welchen Beitrag kann ein bewusster Fleischkonsum zu mehr Naturschutz, Klimaschutz und Gesundheit leisten?,  Marburg (Metropolis) 2014.

Ziegler, Jean: Das Imperium der Schande: Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, München (Goldmann) 2008.

Ziegler, Jean: Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der Dritten Welt, München (btb) 2013.

Das eigentliche Erbeben des Ich (2014)

Akademietagung in Berlin, Samstag, den 8. November 2014
in Zusammenarbeit mit der Loge Zu den drei Seraphim

Zum Thema

Worin ein glückliches Leben besteht, darüber diskutieren die Menschen wohl seit Anbeginn menschlichen Lebens – und für die meisten von uns dürfte ausgemacht sein, dass der Genuss in einem glücklichen Leben einen prominenten Platz einnimmt. Der Genuss ist ein Erlebnis beispielloser Intensität, er ist „das eigentliche Erbeben des Ich“, wie es der Philosoph Emmanuel Levinas einmal ausdrückte. Doch das vermeintlich Evidente und Unmittelbare ist Teil einer Kulturgeschichte, die dieses Erlebnis nicht nur kommentierte (und gelegentlich moralisch bewertete), die Kulturgeschichte hat das, was wir heute unter Genießen verstehen, selbst geprägt. Die Tagung will sich beiden Aspekten widmen, dem kommentierenden und wertenden Blick auf den Genuss und den Transformationen des Begriffes vom Genuss selbst.

Auf den ersten Blick scheint der Genuss gar keiner Erklärung zu bedürfen – mit einer solchen Evidenz überflutet er das Ich, das gleichsam in ihm zu baden und sich in ihm aufzulösen scheint, ohne soziale Beziehungen. Die Studie „Die feinen Unterschiede“ des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zeigte hingegen, dass der Genuss tief verankert ist in soziale Prozesse. Geschmack ist soziales Distinktionsmerkmal: der Weinkenner distanziert sich sozial vom Biertrinker, der Opernbesucher sieht sich in einer anderen sozialen Stellung als der Besucher von Rockkonzerten, die Inszenierung des Fernsehkommissars an der Currywurst-Bude nach der Auflösung eines Falles hat eine soziale Botschaft. Der Frankfurter Soziologe Professor Dr. Christian Stegbauer hat sich in seinem Buch „Reine Geschmackssache? Eine kleine Soziologie des Genießens“ zum Ziel gesetzt, dem Leser zu vermitteln, wie sehr wir bis in unsere Geschmackswahrnehmung hinein durch unsere Umgebung geprägt sind.

Der Genuss ist lebenspraktisch immer auch bezogen auf sein Gegenteil, das Leiden. Wer sich im Übermaß dem Genuss hingibt, wird nach dem Genuss leiden. So erstaunt es nicht, dass geistesgeschichtlich beim Genuss immer auch das Thema behandelt wurde, worin das rechte Maß beim Genuss besteht. Während über weite Strecken der abendländischen Geschichte hier die Klugheit in Anschlag gebracht wurde, um die negativen Folgen des Genießens zu vermeiden, kommt spätestens mit dem französischen Surrealismus, hier an Erkenntnisse aus der Ethnologie anschließend, der Genuss in seinem existenziellen Selbstwert in den Blick, ganz ohne Rücksicht auf seine möglichen negativen Folgen. Der Philosoph Professor Dr. Thomas Mohrs, der sich u.a. am Zentrum für Gastrosophie an der Universität Salzburg engagiert, wirft einen geistesgeschichtlichen Blick auf den Begriff des Genießens, vom Hedonismus des Epikur über Ludwig Feuerbach bis zum „ersten“ Gastrosophen Eugen von Vaerst, der den Genuss von Speisen zu einer Kunstform erhebt.

Ein besonderes Verhältnis zum Genuss hat natürlich ein Koch. Engelbert Tschech, mehrfach ausgezeichneter Koch und Restaurantbesitzer in Graz, engagiert sich seit 1999 in der Slow Food Bewegung und will in seinen Vorträgen das Bewusstsein für die regionale Küche fördern. Als Praktiker ringt er ganz konkret „für die geruhsame sinnliche Lust gegen den universellen Tempowahn“.

Programm

10:00 Uhr
Begrüßung durch den Vorstandsvorsitzenden der Akademie forum masonicum Dieter Ney
Grußwort des National-Großmeisters der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ Thomas Engel
Grußwort des Stuhlmeisters der Loge „Zu den drei Seraphim“ Michael Goszdziewski

10:30 Uhr
Reine Geschmackssache. Eine kleine Soziologie des Geschmacks
Vortrag von Professor Dr. Christian Stegbauer und anschließende Diskussion

gegen 12:15 Mittagspause

14:30 Uhr
Hedonismus leben heißt – verzichten. (Vortragstext)
Vortrag von Professor Dr. Thomas Mohrs und anschließende Diskussion

16:30 Uhr
Die einfachen Dinge im Leben sind meist die besten
Vortrag von Engelbert Tschech und anschließende Diskussion

Die Referenten

Professor Dr. Christian Stegbauer
lehrt Soziologe an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main und forscht insbesondere im Bereich der sozialen Netzwerkanalyse.. 2006 erschien sein lesenswertes Buch „Geschmackssache? Eine kleine Soziologie des Genießens“ im merus-Verlag

Professor Dr. Thomas Mohrs
ist Philosoph und lehrt an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz/Österreich. Er ist Mitarbeiter am Zentrum für Gastrosophie und beschäftigt sich mit Fragen der philosophischen Anthropologie, insbesondere der angewandten Ethik der Ernährung

Engelbert Tschech
ist Koch und Besitzer des Restaurants Corti in Graz und erhielt zahlreiche Preise, insbesondere die erste Mütze des Gault Millaut für ein italienisches Restaurant in Österreich. Der Autor von Kochbüchern gründete 1999 das Slow Food Convivium Graz-Steiermark und setzt sich für die Stärkung regionaler Küche ein

Praktische Informationen

Veranstaltungsort: Logenhaus der Großen National-Mutterloge Zu den drei Weltkugeln“, Heerstr. 28, 14052 Berlin

Flyer zur Jahrestagung 2014