Rolf Keil: „Wir haben Ehrfurcht vor den alten Ritualen“

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Stile des Freimaurerischen – Vielfalt und Einheit der Freimaurerei (2017). Jahrestagung der Akademie forum masonicum e.V. in Berlin, Samstag, den 11. November 2017

„Wir haben Ehrfurcht vor den alten Ritualen“ … Der Umgang mit dem Erbe der Reformloge 

 

Und so erklären wir vor Gott und den Menschen, dass es der einzige Zweck unseres
Bundes sei, ein jedes seiner Glieder besser und der menschlichen Gesellschaft
dienlicher zu machen,und zwar durch Liebe und die Erforschung der Wahrheit.
(Generalabschied des Wilhelmsbader Convents 1782)

Liebe Brüder und Schwestern, liebe Gäste der Akademie.

Br. Dieter Ney bat mich, zur Reformmaurerei in Deutschland zu euch zu sprechen. Das Thema verdiente eine eigene Veranstaltungsreihe. Auch die Frage des Verhältnisses zu den Frauen, die, wie wir auch, am rauen Stein arbeiten, lasse ich unberührt, möchte aber anmerken, dass auch hier aus meiner Sicht ein wachsender Handlungsbedarf besteht.

Zunächst scheint es mir allerdings notwendig zu sein, einen Blick zurück zu werfen. Dann will ich auf die Situation der sich humanitär nennenden Freimaurerei nach 1945 eingehen und die Rolle, die die Loge Lessing im Einigungsprozess der Humanitären Freimaurerei einnahm. Schließlich möchte ich den Bogen zum hier und jetzt schlagen und mich der Frage widmen ob und wie sich die Reformtradition auf das Logenleben auswirkt. Schließlich gehe ich auf die Frage ein, wie sich die Logen aufstellen müssen um auch in Zukunft anschlussfähig zu sein.

„Freimaurerei war immer“ sagt Lessing in seinen Freimaurergesprächen. Auf diese These komme ich später zurück.

In Deutschland gibt es die Freimaurerei seit 1737, denn in diesem Jahr wurde in Hamburg, die „Loge d’Hambourg“ mit der Matrikelnummer 1 gegründet, die trotz ihres französischen Namens ihre Vorbilder in London hat. Heute heißt sie „Absalom zu den drei Nesseln“.  Schnell fast die Freimaurerei in Deutschland Fuß, schnell allerdings verändert sie sich auch. Das klare englische System der drei Grade wird durch die Einführung diverser Hochgrade drastisch verändert. Das Schwedische System des Freimaurerordens und die Strikte Observanz beherrschen die Szene. Es brauchte im Jahr 1782 den freimaurerischen Convent in Wilhelmsbad, um eine Gegenkraft zu etablieren. Nach dem Convent etabliert sich in Deutschland sozusagen ein duales freimaurerisches System: Die wesentlichen Bruchlinien verlaufen entlang der Frage, ob sich das Lehrgebäude der Freimaurerei in den drei Graden „Lehrling – Geselle – Meister“ vollständig mitteilt, wie Br. F. L. Schroeder glaubt oder  ob die drei Grade nur die ersten Stufen eines komplexeren Lehrgebäudes sind, wie es z.B. die „Große Landesloge“ vermittelt. Die zweite große Linie trennt die Deutsche Maurerei in eine strikt christliche Freimaurerei, währenddessen die sich entwickelnde „humanitäre“ Freimaurerei den Zirkel weiter schlägt und prinzipiell auch Juden aufnimmt. Freilich, die Grenzen sind fließend und verändern sich immer wieder einmal.

Hier, in der Aufarbeitung des Wilhelmsbader Convents liegt aus meiner Sicht einer der Anfänge der Reformmaurerei. Gleichzeitig wurde der Kern für den Dauerkonflikt zwischen „Christlicher“ und „Humanitärer“ Maurerei gelegt. Unnötigerweise, wie ich finde. „Meines Erachtens verhalten sich humanitäres und christliches Prinzip in der Freimaurerei wie konzentrische Kreise, von denen der humanitäre den größeren Durchmesser hat. Humanitäre Freimaurerei schließt alle Menschen und nicht zuletzt die Christen ein, christliche Freimaurerei schließt alle Nichtchristen aus.“[1], so Bruder Selter treffend. Leider gab es auf beiden Seiten wenige dauerhaft erfolgreiche Bestrebungen zum toleranten Umgang mit der jeweils anderen Auffassung von Freimaurerei. Stattdessen öffnete sich die Schere in der Bruderschaft weiter. Ficke, Settegast, Blunschli, Selter und viele mehr stehen für den Versuch, die Freimaurerei von ihrer Bindung an religiöse Vorgaben zu befreien, auf der anderen Seite nimmt der Dogmatismus beständig zu.

Die vorgegebene Zeit zwingt uns, einen Sprung ins 20. Jahrhundert zu machen. Die in Wilhelmsbad angelegte Trennung der Systeme hatte sich drastisch verschärft. Mit dem „Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne“ war 1907 eine Großloge geboren worden, die sich sogar in scharfer Abgrenzung zu allen anderen Obödienzen verstand. Der „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“ wandte sich gegen überkommene Formen. Radikal wurden Bibel und das Bekenntnis zum Allmächtigen Baumeister aller Welten gestrichen, auf Schurz und Handschuh wurde verzichtet. Selbstverständnis war es eine „Stätte für freie Männer zu sein, die die alten Freimaurerideale hochhalten, den alten Logen wegen ihrer Weltanschauung nicht beitreten können oder wollen“ [2]. Die Ideale des „Freimaurerbundes zur Aufgehenden Sonne“ wurden später von der „Symbolischen Großloge“ aufgenommen, die aber wieder zurück zu den traditionellen Ausdrucksformen zurückkehrte, um Anerkennungsfähig bei Logen im Ausland zu sein.

Die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erleben in Deutschland das komplette Versagen der freimaurerischen Idee vor der Realität des aufziehenden Nationalsozialismus. Die Humanitäre Freimaurerei schloss ihre Tempel mit der Machtergreifung 1933. Auch die Altpreußischen Großlogen, die nicht mehr als Freimaurer gelten wollten, waren seit dem Juli 1935 verboten und aufgelöst, die Logenhäuser enteignet, zweckentfremdet oder zerstört. Freimaurerei hatte einen schlechten Ruf, die Hetze von Ludendorff und den Nazis blieb nicht ohne Echo in den Köpfen der Menschen. Einige Großlogen hatten aktiv an diesem Ruf mitgewirkt, hatten sie doch bereits in den 20er Jahren unter ziemlich großzügiger Auslegung des zweiten Hauptstücks der „Alten Pflichten“ versucht, die Freimaurerei völkisch zu definieren und sich dann mit den neuen Machthabern nach 1933 zu arrangieren, zum Glück ohne Erfolg, jedoch mit großem Verlust für die Glaubwürdigkeit unseres Bundes hinsichtlich der Ernsthaftigkeit der von ihm propagierten Werte.

Diejenigen Logensysteme, die sich 1933 selbst auflösen, bleiben den humanitären Prinzipien treu und ihre aus damaliger Sicht „irregulären“ Brüder der „Symbolischen Großloge“ bringen das symbolische „freimaurerische Licht“, wie wir das nennen, nach Israel und Chile und hoffen, damit schon das Fundament für einen weitestgehend unbelasteten Neubeginn nach dem politischen Zusammenbruch von 1945 legen zu können. Die dunkle Zeit legte dann den Mantel des Schweigens über die Reste der deutschen Freimaurerei.

Sommer 1945. Deutschland lag in Trümmern. Die öffentliche Ordnung wurde von den Militärbehörden der Besatzungsmächte durchgesetzt. Vielerorts war die Infrastruktur völlig zerstört, Millionen Menschen irrten durch Europa, waren entwurzelt, vertrieben, verschollen oder getötet. Der Aufbau und die Struktur des „neuen“ Deutschland waren noch im Nebel. Die Freimaurerei in Deutschland war nicht mehr existent. In dieser schwierigen Zeit, in der das nackte Überleben die Notwendigkeiten diktierte, in dieser Zeit gab es glücklicherweise Männer, in denen das maurerische Licht die Dunkelheit überdauert hatte.

Meine Frankfurter Mutterloge „Lessing“ ist aus den beiden Logen „Goethe“ und „Spinoza“ in Frankfurt und Offenbach hervorgegangen. Die Wurzeln liegen im „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“. 1907 wurde in Offenbach die Loge „Sokrates“ des „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“ gegründet, später im Oktober 1930, erfolgte der Übertritt zur „Symbolischen Großloge“. Im Sommer 1945 fand sich ein kleiner Bruderkreis dieser beiden Logen zusammen, um zunächst einmal festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Fortsetzung oder Gründung einer Loge gegeben seien. Rasch war klar, dass die beiden Logen „Spinoza“ und „Goethe zu den drei Säulen“ durch den Krieg zu ausgezehrt waren, um Sie wieder zu beleben.

Br. Emil Selter, der Gründer der Loge „Lessing“ und deren beherrschende Figur, beschreibt diese historisch zu nennende Zusammenkunft in den Trümmern Frankfurts in seiner Festrede anlässlich des fünfundzwanzigsten Jahrestages der Logengründung:

 „26. September 1945, ich sehe eine beengte Wohnung am Kaiserplatz in Frankfurt, Bruder Geier hat elf Männer zu sich eingeladen, Freimaurer, der Verfolgung des Naziregimes entgangen, den Schrecken des Krieges entronnen, entschlossen einen neuen Anfang zu machen, eingedenk aller Lehren der Vergangenheit. Die Logennamen „Spinoza“ und „ Goethe zu den drei Säulen “ können wieder ausgesprochen werden, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Andere Logennamen tauchen auf, erwecken schmerzliche, erhebende oder mitleidige Erinnerungen, Systeme werden geprüft, Orientierungshilfen aus dem Gedächtnis hervorgeholt, alles vermengt mit den Fragen, wo ist der, wo ist jener, unterbrochen mit Nachrichten aus der Gefangenschaft, aus Konzentrationslagern und fernen Ländern der Emigration. Deprimierendes wird zur Herausforderung, bittere Erfahrung zur Quelle bedeutender Energien.

Der Name Lessing fällt, Inbegriff der Fröhlichkeit und Skepsis, geistreicher Aperqus und scharfem Blick für die menschlichen Schwächen, ein würdiger Name für eine Loge, sprudeln der Quell von Ideen und Eigenständigkeit.

Der Anfang war gemacht, der Kampf mit der Bürokratie, mit den Besatzungsmächten konnte beginnen. „ The big brother is watching You.“[3]

Die neue Loge gab sich ein Hausgesetz, indem auch Stellung zur Neuordnung der Freimaurerei in Deutschland genommen wird:

„Beseelt von dem Wunsch, die im Jahr 1933 unterbrochene freimaurerische Arbeit wieder aufzunehmen, erfüllt von dem Verlangen, die Arbeit unbekümmert um politische Streitigkeiten und fern vom Lärm der Straße fortzuführen

  • in Ehrfurcht vor dem A.B.a.W
  • zum Besten des Deutschen Volkes
  • zum Wohle der ganzen Menschheit

haben sich die Unterzeichnenden Brüder Freimaurer zu einer Loge zusammengeschlossen und ihr den LESSING gegeben, um einen großen Freimaurer zu ehren. Sein geistiges Vermächtnis soll ihnen Ansporn und Verpflichtung sein.
In Anbetracht der völlig unübersichtlichen Verhältnisse und in der Absicht mit allen Kräften am Aufbau EINER großem Deutschen Bruderkette mitzuwirken, haben die gründenden Brüder beschlossen, dass die Loge bis zur Errichtung einer einheitlichen deutschen Großloge eine UNABHÄNGIGE LOGE sein und bleiben soll.“
[4]

Diese Unabhängigkeit sollte sich auch im Ritual niederschlagen. Anstelle der früher verwendeten Rituale sollte eines treten, dass die unterschiedlichen Traditionen aufgreifen und allen Lehrarten gerecht werden sollte. Das Ritual der „Lessing“, dass heute zu den Traditionsritualen innerhalb der „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland“ zählt und das als eines von nur drei zugelassenen Ritualen neben der Bibel auch das weiße Buch auflegt, wurde von Emil Selter zunächst in den Jahren 1945/1946 aus dem Gedächtnis niedergeschrieben.

Im Lauf des Jahres 1946 erhält die Aufnahmehandlung ihre heutige Ausprägung. Im Grundgerüst lässt sich Selter vom Ritual der „Großloge zur Sonne“ in der Fassung von 1873 leiten, die nachfolgend gelegentlich als Bluntschli Ritual oder Sonnenritual bezeichnet wird. Gleichzeitig reichert er das Ritual um Bestandteile aus anderen Lehrarten an, um dem selbst gestellten Anspruch der Loge „Lessing“ – eine Einigungsloge sein zu wollen – gerecht zu werden. So finden sich Elemente aus der „Symbolischen Großloge“, aus dem „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“ (aus dem die Vorgängerlogen der „Lessing“ hervorgegangen sind, bevor sie in die „Symbolische Großloge“ wechselten), aus der schottischen Maurerei und aus der Prager Großloge „Lessing zu den 3 Ringen“ und aus dem Ritual der „Großen Landesloge“. Innerhalb der Rituale der Großloge zur Sonne finden wir Anleihen an das Freiburger Ritual von Ficke aus dem Jahr 1865, aus dem Ritual der Loge „Zur Bergischen Freiheit“ und von der Loge „Allvater zum freien Gedanken“ aus Lahr, die beide von Paul Selter geschrieben wurden, sowie von der Loge “Theodor zum bergischen Löwen“ in Düsseldorf.

An dieser Stelle vielleicht kurz zur Frage, wieso überhaupt ein neues Ritual? Die Logen „Spinoza“ und „Goethe“ hatten ja zur „Symbolischen Großloge von Deutschland“ gehört und deren Ritual bearbeitet, somit wäre es möglich gewesen, weiter nach diesem Ritual zu arbeiten. Für die Brüder der „Lessing“ war allerdings sehr früh klar, dass die neue Loge nicht die (Wieder-)Aufnahme in die „Symbolische Großloge“ anstreben sollte. Zu präsent war die die Zersplitterung der deutschen Freimaurerei vor der dunkeln Zeit. In einem Entwurf für ein Hausgesetz aus dem Jahr 1946 heißt es: „Die Loge „Lessing“ bearbeitet ein eklektisches Ritual.“ Die Loge Lessing erklärte sich also für unabhängig von bestehenden Obödienzen, bis zur Einigung der deutschen Freimaurerei. „Nach dem fürchterlichen Zusammenbruch, ist kein Platz mehr nach Machtverlangen, Geltungssucht, Vorteilsstreben, Ichsucht von einzelnen Logen oder Großlogen. Entscheidend ist die freimaurerische Haltung … Die Aufgabe lautet: Sollen wir, obwohl wir alle Freimaurer sind, uns weiter fremd gegenüberstehen, oder sollen wir eine Form finden, in der die Freimaurerei sich einigt“[5], schreibt Br. Selter an anderer Stelle.

Von den altpreußischen Großlogen ging der Vorschlag aus, dass alle deutschen Logen einen gemeinsamen Antrag stellen sollten, den Status vor 1933 wiederherzustellen. Dieser Antrag entsprach nicht den Vorstellungen der humanitären Logen.

Am 14. und 15. Juni trafen sich unter Vorsitz von Br. Pauls in Frankfurt am Main 23 Mitglieder früherer Großlogen aller Lehrarten, mit Ausnahme der „Großen Landesloge“. Die „Symbolische Großloge“ wurde bei der Tagung, die als Frankfurter Konvent in die Annalen der deutschen Freimaurerei einging, von Br. Emil Selter vertreten. Die Loge „Lessing“ organisierte die Tagung und Br. Georg Geier stellte seine Geschäftsräume für die Beratungen zur Verfügung. Als Ergebnis dieser Zusammenkunft wurde die „Frankfurter Arbeitsgemeinschaft von Freimaurerlogen“ gegründet, die „Brücke und Übergang zur einzigen Großloge“ sein müsse. Die Loge „Lessing“ trat noch am selben Tage offiziell als erstes Mitglied bei. In einer Resolution wurde beschlossen, dass es „fortan nur eine Johannisfreimaurerei in Deutschland geben solle, für die christlich und humanitär nichts Trennendes sei“.[6] Weitere Kernforderungen waren: Demokratie nach innen, Ritualfreiheit für die Logen, Toleranz und die Achtung vor der individuellen Freiheit. Br. Emil Selter wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft gewählt und Br. Geier, ebenfalls Mitglied der Loge „Lessing“, wurde Geschäftsführer. Den Vorsitz führte Dr. Dr. Pauls, ein Ehrenmitglied der „Lessing“. Auch der spätere Großmeister der „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer“, Br. Theodor Vogel, der den Konvent mit angeschoben hatte, nahm aktiv an den Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft teil.

Als Folge der Lockerung der Bestimmungen der Militärregierungen wurden im Laufe des ersten Halbjahres 1948 Landeslogen in den verschiedenen Ländern gebildet. Am 18. Juni 1948 sollte in der Paulskirche in Frankfurt am Main der ersten deutschen Nationalversammlung gedacht werden. Hierzu wurde auf Beschluss der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft, die mittlerweile 125 Logen umfasste, am Vortage zu einer feierlichen Tempelarbeit eingeladen. Vorbereitung, Einrichtung des Tempels und das Ritual lagen weitestgehend in der Verantwortung der Loge „Lessing“. Das verwendete Ritual basierte im Wesentlichen auf dem Ritual des Lehrlingsgrades der Loge „Lessing“ und ist im Original erhalten. Die Arbeit wurde von Emil Selter geleitet. Selter und andere hofften den Schwung der Versammlung zur Ausrufung einer Einheitsgroßloge zu nutzen. Dazu sollte es nicht kommen, denn Br. Theodor Vogel kündigte an, dass sich die von ihm vertretenen 31 bayrischen Logen widersetzen würden. Damit hatte Br. Vogel seinen Führungsanspruch deutlich gemacht. Am nächsten Tage wurde in Frankfurt der „Deutsche Großmeisterverein“ unter seiner Führung ins Leben gerufen. Vier Monate später wurde von dem Großmeisterverein in Kissingen die „Vereinigte Großloge der Freimaurer von Deutschland“ gegründet. Die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft, deren Ziele weitgehend erreicht waren und die dieser Gründung maßgeblich den Weg gebahnt hatte, löste sich auf. Der Versuch des Reformlagers zu einer Großlogengründung von „Unten“ war gescheitert.

In der Rückschau muss man konstatieren, dass Br. Theodor einen weiteren Blick auf die gesamte Freimaurerei hatte. Die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft hatte von Anfang an verlangt, dass sich in dieser Arbeitsgemeinschaft nur Logen sammeln sollen, die sich frei entscheiden können, also nicht abhängig sind von den Weisungen ihrer ehemaligen Großlogen. Damit waren die Logen der „Großen Landesloge“ außen vor und sie wurden auch nie zu den Verhandlungen hinzugezogen. Im Gegensatz dazu hat Br. Vogel immer auch mit den Vertretern der „Großen Landesloge von Deutschland“ Kontakt gehalten und versucht, sie in die Einigung einzubeziehen.

Die „Große Landesloge von Deutschland“ trat der gegründeten „Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland“ trotz aller Bemühungen von Br. Vogel nicht bei. Zu unüberwindbar waren die Gegensätze, vor allem in der Frage des von der „Großen Landesloge“ verlangten christlichen Bekenntnisses und der Hochgrade. Dennoch war die Gründung der „Vereinigten Großloge von Deutschland“, die später die „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer“ wurde,  ein wichtiger Teilerfolg auf dem Weg zur Einheit.

Im Wesentlichen sind die Forderungen der Reformer in der Verfassung der „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer“ erfüllt. Die Logen haben eine große Freiheit in ihren inneren Angelegenheiten, Distriktmeister sind keine Provinzfürsten, sondern Verwaltungsposten im Auftrag auch der Stuhlmeister, es herrscht Ritualvielfalt. Posthum wurde selbst dem früher verfemten „Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne“ Gerechtigkeit zuteil. „Der Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne (F:Z.A.S.) hat sich 1907 mit universeller und liberaler Deutlichkeit erklärtermaßen gegen solch konservative Hintergründe konstituiert, um ‘die Menschheit aus den engen Fesseln der Konfessionen und der dogmatischen Weltanschauungen herauszuheben und sie auf den Boden des reinen Menschtums zu stellen’ (Großmeister Dr. Curt Rothe).[7] Heute sehen wir in dieser Grundhaltung Wurzeln unserer liberalen Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, die erst 1949 aus den jahrhundertealten Traditionen freien Denkens gegründet wurde.“ Auf dieser programmatischen Grundlage hat die Loge Lessing seit ihrer Gründung gearbeitet und tut es noch.

Die Loge war auch immer aufs engste mit dem Wiedererstehen des „Alten und Angenommenen Schottischen Ritus“ in Deutschland verbunden. Selter war im ersten Obersten Rat, die Souveränen Großkommandeure Pauls, Geier, Hendrickson und Lott gehörten der „Lessing“ an, ebenso wie zahlreiche Träger des 33. und letzten Grades des „Alten und Angenommenen Schottischen Ritus“.

Die junge Loge profitierte lange Zeit von diesem aufklärerischen und kämpferischen Geist und umfasste Anfang der 60er Jahre 120 Brüder! Das Durchschnittsalter lag bei 51 Jahren, deutschlandweit war sie berüchtigt. Ich habe in den 90er Jahren einmal eine Loge in Hamburg besucht, und als man mein Bijou entziffert hatte, hauchte der Bruder „Die Lessing! Du Armer! Bei euch geht es ja hoch her!“

Dann setzte der Sinkflug ein, der bis 2008 anhielt und die Loge auf ca. 40 Brüder schrumpfen ließ, von denen aber höchstens 15 aktiv waren. Wie ist es dazu gekommen? Die Rückschau zeigt verschiedene Gründe. Zum einen war das geistige Niveau der Loge zweifellos sehr hoch, entsprechend waren auch die ausgeprägten Diskussionen der Klubabende. Sie waren aber zu einem Ritual verkommen, bei dem sich die Brüder selbst genug waren. Gäste wurden abgeschreckt, eine ganze Generation wurde nicht erreicht oder verließ die Loge frustriert. Wenn man sich durch die alten Akten wühlt, erhält man den Eindruck, dass menschliche Wärme fast gänzlich gefehlt hat bzw. nicht für wichtig erachtet wurde. Es zeigen sich Ego-getriebene Auseinandersetzungen, Verletzungen und Enttäuschungen. Es gab Fraktionierungen, auch kleinere, abgeschottete Kreise. Insgesamt herrschte also ein Klima, dass alles andere als einladend war. Ein zweiter Grund für den Rückgang der Attraktivität ist darin begründet, dass das Wissen um die Gründungszeit und die sich aus ihr ergebenden Strukturen und Besonderheiten der Loge weitgehend vergessen wurde. Wer seine Traditionen aber nicht begründen kann, der kann sie auch nicht glaubwürdig leben. Der dritte Grund lag in der mangelnden Pflege des rituellen Aspekts begründet. Das Lessing Ritual unterscheidet sich in vielen Details vom Ritual der „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer“, es hat aber an einigen Stellen Einfluss auf die Entstehung dieses Rituals genommen.

All das zusammen hat dazu geführt, dass wir uns 2008 der Frage ausgesetzt sahen, ob die Loge sich einer anderen bestehenden Loge in Frankfurt anschließt. Zum Glück ist es anders gekommen.

Was war dazu nötig? Eine entschlossene Mannschaft von jungen Brüdern, die den Wert der Loge erkannten und erhalten wollten. Wir arbeiteten unsere Geschichte auf, achteten auf Ritualtreue und wollten auch verstehen, warum das Lessing Ritual anders ist. Im Ritual zeigt sich das Reformerbe am Augenfälligsten, ich gehe gerne in der Diskussion näher darauf ein. Unseren Ruf als Diskussionsloge wollten wir verteidigen, allerdings legten wir viel Wert auf einen herzlichen Umgang miteinander. In aller Regel folgt an Clubabenden auf einen Input, eine Diskussion, die selten weniger als 90 Minuten dauert. Hier wird auch hart argumentiert, aber es wird streng darauf geachtet, dass niemand als Verlierer vom Platz geht. Wenn sich das Erbe der Reform bemerkbar macht, dann an dieser Stelle. Die Diskussionskultur wird von vielen Brüdern, die uns besuchen, als ziemlich einzigartig beschrieben. Wir haben Gästeabende strukturiert und uns um Nachwuchs gekümmert. Die Loge umfasst heute 57 Brüder, das Durchschnittsalter liegt bei 52 Jahren. Bleibt die Frage, ob das Erbe der Reformloge noch einen Wert besitzt, der in die Zukunft trägt. Da bin ich skeptisch.

Mit der Gründung der „Vereinigten Großlogen von Deutschland“ wurde eine Organisationsform gefunden, die größtmögliche Freiheit der Logen und Großlogen garantiert und es ist gelungen, die Zeichen auf Zukunft und Wachstum zu stellen. Die Brüder nehmen diesen Zustand als selbstverständlich hin. Unterschiedliche Rituale werden eher als folkloristische Besonderheiten, denn als inhaltlich begründete erlebt. Auch in meiner Mutterloge wäre es so, wenn sich nicht jemand findet, der sich als Hüter der Flamme versteht und jungen Brüdern zu vermitteln versucht, was die Besonderheit der Loge „Lessing“ und ihrer Tradition ausmacht.

Viele Inhalte der Reformmaurerei haben sich in Deutschland durchgesetzt. Die „Großloge der Alten Freien und Angenommen Maurer“ sieht in der Reformmaurerei einen sie stark prägenden Einfluss, der sich in der liberalen Denkart und auch in der Ritualvielfalt der Großloge zeigt. Die Reform ist also Mainstream geworden, könnte man meinen. Während ich davon überzeugt bin, dass die Reformmaurerei als Label sich überlebt hat, gilt das nicht für die Inhalte: Hier glaube ich, dass sich die Logen in Deutschland weiter an die Denkschulen der Reformbewegung anpassen müssen, wenn sie anschlussfähig bleiben wollen.

Was heißt das konkret?

  1. Die Freimaurerei ist zunächst und vor allen Dingen eine persönliche Lebensreise. Allerdings enthält die Freimaurerei in ihren Ritualen einen klaren Handlungsauftrag: „Geht nun zurück in die Welt, meine Brüder, und bewährt euch als Freimaurer. Wehret dem Unrecht, wo es sich zeigt, kehrt niemals der Not und dem Elend den Rücken, seid wachsam auf euch selbst.“ Es reicht also nach meiner Auffassung nicht, dass sich unsere Logen in falsch angewandter Exklusivität darauf zu beschränken ein jedes ihrer Mitglieder besser zu machen. Oder um in der Sprache unserer Symbolik zu sprechen, den Bruchstein zum Baustein zu glätten und darüber den Schlussstein, der erst den Bau vollendet, zu vergessen. Denn die Aufgabe der Freimaurerei, die bereits 1782 in Wilhelmsbad formuliert wurde, nämlich „ein jedes ihrer Glieder der menschlichen Gesellschaft nützlicher zu machen“, bleibt bestehen. Der Blick nach innen greift zu kurz! Der Maurer soll in die Gesellschaft hinein wirken. Die Freimaurerische Ethik ist eine Handlungs- und Einübungsethik. Um in der Welt zu wirken, müssen wir die Welt bis zu einem bestimmten Grad bei uns einlassen und wir müssen uns auf die Welt einlassen.
  2. Die Freimaurerei darf sich nicht als eine Organisation zur Pflege gehobener Geselligkeit umrahmt von ehrwürdigen Gebräuchen begreifen. Das kann jeder Lions Club besser. Freimaurerei ist Arbeit! Arbeit an uns selbst, Arbeit am Tempel der Humanität, dessen Baugrund, Baustein und Baumeister der Freimaurer sein will.
  3. Die Freimaurerei darf nicht der Versuchung erliegen, aus dem Bedürfnis nach Frieden und Ruhe heraus, alles aus den Leben der Logen fernzuhalten, was auch nur im Geringsten geeignet erscheint, gegensätzliche Auffassungen in Erscheinung treten zu lassen und so die Gemüter in Wallung kommen zu lassen.

Ich bin davon überzeugt, dass die Freimaurerei auch in den nächsten 300 Jahren noch eine Notwendigkeit sein wird, in welcher Form sie sich dann auch immer präsentiert. Denn wie Lessing zu Recht bemerkt, ist sie der bürgerlichen Gesellschaft immanent. Ob sie in der heutigen Form eine Zukunft haben wird, hängt davon ab wie wir, die Maurer von heute mit ihr umgehen. Die Chancen sind gut, denn die Logen haben ein Alleinstellungsmerkmal: Ganz gleich ob Wirtschaftsklub, Gewerkschaft, politische Partei oder Religionsgemeinschaften, alle machen sich der gleichen Sünde schuldig: der des Selbstgesprächs oder des Schwimmens in der Filterblase. Sozialdemokraten gehen in sozialdemokratische Versammlungen, CDUler zur CDU, Gewerkschaftler besuchen ihre Zusammenkünfte und Geschäftsleute die ihren. Was dort in aller Regel stattfindet, ist eine Selbstbestätigung. Man hört Menschen zu, deren Ansichten sie man ohnehin teilt, die Redner freuen sich, den rechten Ton getroffen zu haben. Aber ein Austausch findet nicht statt, Glaubenssätze werden nicht hinterfragt. Hier liegt eine große Aufgabe und Chance der Freimaurerei! Wir müssen weiterhin versuchen, die Angehörigen aller gesellschaftlichen Gruppen zusammenzuführen. In großer Weisheit hat Anderson es schon in den Alten Pflichten aufgezeigt, wenn er schreibt, die Freimaurerei sei eine Stätte „der Einigung und ein Mittel, wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften, die einander sonst ständig fremd geblieben wären.“

Dabei dürfen wir nicht dem alten Fehler der Deutschen Maurerei anhängen, die Logen lediglich als Organisation des aufwärts orientierten Bürgertums zu definieren und sich damit abzuschotten gegen Menschen, die aus bescheideneren Verhältnissen kommen. Freimauerei verlangt keinen besonderen Bildungsabschluss und schon gar kein Gehaltsniveau. Gefordert wird lediglich die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und der ernsthafte Wunsch an der Selbstvervollkommnung zu arbeiten.

Politische Zankereien sind in der Loge tabu, ebensolche über die Konfessionen. Aber wo, wenn nicht im geschützten Setting unserer Logen, können wir offen sprechen, unsere Standpunkte überprüfen und das tun, was laut Lessing eine der größten Freuden ist: laut Nachdenken mit einem Freund! Die Loge bietet einen geschützten Raum, der erst Entwicklung und das Aufeinander-Zubewegen ermöglicht. Der geschützte Raum der Logen ermöglicht es, die eigene Position zu hinterfragen, ohne dass dies als Schwäche ausgelegt wird. In unseren Diskursen geht es nicht darum zu gewinnen, sondern es geht darum, möglichst viele Sichtweisen kennenzulernen, sie abzuwägen und vielleicht den eigenen Standpunkt weiter zu entwickeln. So verändern wir uns, und schließlich die Welt! Dieses „laut mit einem Freund Denken“ funktioniert übrigens nur in der realen Loge, nicht in der virtuellen Welt der sozialen Medien. Um das Gegenüber mit seinen Argumenten tatsächlich zu würdigen, bedarf es des ganzen Spektrums menschlicher Ausdrucksformen auf beiden Seiten.

Die Loge ist der ideale Ort um gesellschaftlich Relevantes zu besprechen. Sind wir politisch in diesem Sinn? Trauen wir uns auch die Felder zu beackern, bei denen wir am Ende nur darin übereinstimmen, dass wir nicht übereinstimmen? Gerade in einer Zeit, in der die Zentrifugalkräfte an Stärke gewinnen, braucht es einen Raum, in dem der Mensch dem Menschen begegnet. Und tragen wir unseren Standpunkt wieder und wieder in die Gesellschaft zurück! Jeder als Einzelperson, aber vereint im unsichtbaren Band! Wenn wir weiter darauf achten, dass wir einander in brüderlicher Liebe begegnen, den geistigen Kampf nicht zum Streit, die Diskussion nicht zur Disharmonie werden lassen, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Auch das ist eine Lehre aus der Reformtradition, die es oft nicht geschafft hat, den Aspekt der brüderlichen Liebe wirklich zu leben, sondern auch eine Geschichte der fortwährenden Abspaltungen war. Der kalte Intellekt alleine reicht nicht, um erfolgreich in der Kette am Tempel der Humanität zu bauen. Es braucht die Brücke zwischen Emotionalität und Intellekt, und es braucht den Mörtel der Bruder- und Menschenliebe. Wenn wir dann auch noch daran festhalten, der Freude, dem Spaß und der offenen Herzlichkeit einen Platz in der Arbeit und in unseren Herzen einzuräumen, dann mache ich mir keine Sorgen.

Der Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne forderte von seinen Mitgliedern für „ihre Ideen jederzeit furchtlos und unerschrocken einzutreten, Unrecht an Schwachen und Unterdrückten nicht zu dulden, für Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschenliebe jederzeit die blanken Waffen des Geistes tatkräftig zu gebrauchen. Denn den wahren Freimaurer ziert der Wille zur Leistung, seine wahre Feier ist die Tat“[8].
Wie ich finde, auch heute noch ein ehrenwerter Auftrag!

Meine Mutterloge Lessing eröffnet jede rituelle Arbeit mit den drei programmatischen Sätzen aus Ernst und Falk. Sie beschreiben unsere Aufgabe treffend:

„Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaften hinweg wären und genau wüssten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört.“

Wie ungeheuer aktuell sind jene Zeilen heute, wo der große Verführer, der Nationalismus wieder sein Haupt erhebt.

„Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem Vorurteile ihrer angeborenen Religion nicht unterlägen, nicht glaubten, dass alles notwendig gut und wahr sein müsste, was sie für gut und wahr erkennen.“

Auch hier liegt die Aktualität auf der Hand.

„Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt, in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herablässt und der Geringe sich dreist erhebt.“

Unsere Aufgabe ist es, eine Brücke zu bauen, auf der sich Menschen auf Augenhöhe begegnen können! Da liegt in echter reformmaurerischer Tradition noch ein weiter Weg vor uns!

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

[1] Emil Selter: „Das Humanitäre und das Christliche Prinzip in der Freimaurerei“. Von der Freiheit des Freien Maurers; Selbstverlag Loge Lessing, Frankfurt, S. 134

[2] Programm des Freimaurerbundes zur Aufgehenden Sonne 1911, S.5

[3] Rede zum 25jährigen Bestehen der Loge Lessing Nr. 769, Logenakten

[4] Entwurf Hausgesetz , Logenakten Lessing

[5] „Von der einen Freimaurerei“, Vortrag 1946, Logenakten

[6] Protokoll des Frankfurter Konvents

[7] GM Jens Oberheide, in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Loge „Zur Wahrheit“ in Nürnberg

[8] Handbuch des F.Z.A.S. 1.Abschnitt, S.7